Dreieinhalb Jahre nach der Geisterfahrt einer Stadtbahn erhebt der damals bewusstlose Fahrer Vorwürfe.
Stadtbahn in BonnUnglücksfahrer der Linie 66 sieht sich als Sündenbock
Dreieinhalb Jahre nach der nächtlichen Geisterfahrt einer Stadtbahn der Linie 66 zwischen Sankt Augustin und Bonn erhebt der Unglücksfahrer Vorwürfe gegen seinen früheren Arbeitgeber, die Bonner Stadtwerke (SWB). Gegenüber der Redaktion schildert Volker L. erstmals detailliert die Ereignisse der Unglücksnacht aus seiner Perspektive. Zuvor habe er sich nicht äußern dürfen, sagt er. Aus Rücksicht auf seine Familie hat er um Anonymität gebeten.
Seit Jahren hadert der mittlerweile 51-Jährige mit den Geschehnissen, bei denen zum Glück niemand zu Schaden kam. Ihm sei damals von den Stadtwerken in der Öffentlichkeit die Hauptschuld an der Beinahe-Katastrophe gegeben worden. Die SWB hatten nach der Unglücksnacht einen epileptischen Anfall als Ursache für die Ohnmacht des Fahrers genannt. Seine Erkrankung habe der Mann gegenüber den Stadtwerken verschwiegen.
Volker L. hingegen sieht eine technische Fehlkonstruktion als Hauptursache dafür an, dass die Stadtbahn in der Nacht zum 22. Dezember 2019 weiterfuhr, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte. Nach der Geisterfahrt hätten ihn die SWB und die Polizeibeamten vor Ort wie einen Schwerverbrecher behandelt. Eine psychologische Betreuung oder Aufarbeitung des Vorfalls habe bis heute nicht stattgefunden. Ohne ein weiteres Gespräch sei ihm – damals noch in der Probezeit – gekündigt worden. „Der Umgang mit mir als Mitarbeiter war wirklich eiskalt“, sagt er.
Dass der gelernte Energieelektroniker an Epilepsie leidet, ist unstrittig. Seit seinem 13. Lebensjahr sei er aber medikamentös gut eingestellt, berichtet er. Zum Zeitpunkt seiner Bewerbung bei den Stadtwerken habe er zehn Jahre lang keinen Anfall gehabt. „Bei der Einstellungsuntersuchung hat mich der Betriebsarzt nicht nach Vorerkrankungen gefragt“, sagt er. Bei seiner Ohnmacht habe es sich auch nicht um einen Anfall gehandelt, sagt Volker L.: „Das fühlt sich anders an.“ Vielmehr habe er seine Nachtschicht mit Kopfschmerzen und ohne ausreichende Mahlzeit angetreten. „Ich habe vorher einen Energydrink und eine Ibuprofen-Tablette genommen“, sagt er. „Im Nachhinein hätte ich gar nicht fahren sollen.“
Von Siegburg kommend habe er dann hinter der Haltestelle Sankt Augustin-Mitte das Bewusstsein verloren. „Das hätte bei einem Herzinfarkt oder Kreislaufkollaps jedem passieren können“, glaubt Volker L. Als er wieder zu sich kam, saß der Familienvater in der bereits gestoppten Bahn auf der ersten Bankreihe hinter dem Fahrerhaus neben einer Polizistin. Die habe ihm barsch verboten, den schrillen Klingelton nach der Notbremsung abzuschalten. „Ich hatte doch so starke Kopfschmerzen“, sagt der ehemalige SWB-Fahrer. Polizisten hätten ihn dann zu einem Bluttest in die Kaiser-Karl-Klinik gebracht. Dort seien Amphetamine festgestellt worden, laut Volker L. möglicherweise aufgrund der Schmerztablette und des Energydrinks. Danach kamen Polizisten zu einer nächtlichen Wohnungsdurchsuchung, bei der sie Medikamente zur Prüfung mitnahmen. Die Stadtwerke hätten sich selbst erst nach Weihnachten bei ihm gemeldet. Anders als sonst üblich sei er nach dem Vorfall nicht abgeschirmt worden. Nur ein Techniker sei erschienen, um für die Polizei den Fahrtenschreiber auszubauen. Der Fahrerbetreuer sei am 31. Dezember mit ihm zu einem Erstgespräch in eine Kölner Klinik gefahren. Dabei sei es geblieben.
Die SWB stellen die Lage anders da. Der verwendete Anamnesebogen bei der Einstellungsuntersuchung stelle explizit die Frage nach Epilepsie. „Erkrankungen wie Suchtmittelmissbrauch, Epilepsie oder Augenerkrankungen schließen die Anstellung als Fahrer oder Fahrerin aus“, betont Pressesprecherin Stefanie Zießnitz. Volker L. habe sich seinen Job „mit arglistiger Täuschung erschlichen“. Allerdings bekomme der Arbeitgeber die Angaben aus Datenschutzgründen nicht übermittelt. Der Betriebsmedizinische Dienst melde nur ein „geeignet“ oder „ungeeignet“. Eine psychologische Betreuung habe nach der Entlassung von Volker L. aus der Klinik stattgefunden. Diese sei ihm erst nach der Kündigung „entzogen“ worden. Belege dafür gibt es allerdings nicht.
Die Details der sogenannten Totmannschaltung waren zunächst strittig und Gegenstand technischer Untersuchungen. Entweder habe man als Fahrer einen Knopf auf dem Hebel für das Fahrtempo oder ein Fußpedal drücken müssen, berichtet Volker L. Allerdings sei Letzteres in der alten Bahn aus den 1970er-Jahren in ein schräg angebrachtes Metallbleich mit Aussparung eingelassen gewesen. Volker L. vermutet, dass sein halb auf dem Brett ruhender Fuß den Schalter ausgelöst habe, obwohl er eigentlich nicht mehr bei Bewusstsein war. Einen Monat nach dem Vorfall hatte die Technische Aufsichtsbehörde der Bezirksregierung jedenfalls für alle Bahnen eine Nachrüstung angeordnet. Seither müssen die Fahrer alle zehn Sekunden aktiv einen Knopf drücken. Sonst bremst die Bahn binnen 15 Sekunden automatisch ab. Ende 2021 hatten die SWB die Hälfte ihrer Bahnen umgerüstet. Inzwischen seien alle mit der neuen Technik ausgestattet, sagt Sprecherin Zießnitz, „wir waren und sind an allen Stellen konform zu den jeweils gültigen Anforderungen unterwegs“.
Volker L. hat die Nacht vollkommen aus der Bahn geworfen. 18 Monate sei er krank geschrieben, danach in Reha gewesen. „Die habe ich als nicht arbeitsfähig verlassen“, berichtet er. Die Rentenversicherung habe aber eine Verrentung abgelehnt. Das Amtsgericht verhängte einen Strafbefehl über 2500 Euro, weil Volker L. drei Monate nach der Geisterfahrt mit seinem Wagen einen Unfall verursachte – diesmal definitiv aufgrund eines epileptischen Anfalls. Eine Aufarbeitung, ein klärendes Gespräch wünscht er sich bis heute.
Die Geisterfahrt der Linie 66
In der Nacht zum 22. Dezember 2019 gegen 0.40 Uhr war eine Bahn auf der Linie 66, von Siegburg kommend, ab Sankt Augustin führerlos unterwegs, weil der Fahrer in seiner Kabine zusammengebrochen war. Die Stadtbahn passierte in schneller Fahrt acht Haltestellen und 13 teils geöffnete Bahnübergänge. Einige der rund 20 Fahrgäste zogen mehrfach, aber erfolglos die Notbremse, die lediglich ein Haltesignal an den Fahrer sendet. Nach telefonischer Rücksprache mit Polizei und SWB-Leitstelle gelang es schließlich zwei beherzten Männern, die Scheibe der Fahrertür zu zerschlagen und die Bahn kurz vor der Haltestelle Adelheidisstraße zu stoppen. Beide Männer wurden dabei leicht verletzt. Ansonsten kam keiner der Passagiere zu Schaden. (wmr)