Serie „Orte, die Kraft geben“Vom Rätsel um den Steinkreis von Oberdollendorf
Oberdollendorf – Abschalten, Ruhe finden, den Geist auf neue Gedanken bringen – wer will das nicht in diesen Zeiten? In einer Sommerserie stellt die Rundschau ungewöhnliche Oasen der Stille und Orte der Kraft in der Region vor.
Der Bussard macht zwei, drei kräftige Schläge mit den Flügeln, dann ist er im Aufwind, schraubt sich hoch und kann sich dann von der Thermik tragen lassen. Ohne die Schwingen zu bewegen, zieht der kreisend seine Runden, über sich Wolken, unter sich die Dollendorfer Hardt, die 246 Meter hohe nördlichste Erhebung des Siebengebirges. Weinberge breiten sich aus, die Rebflächen schmiegen sich an Terrassen, die bei einer großen Flurbereinigung in den Jahren 1973 bis 1979 angelegt worden sind. Hier wachsen die Lagen „Laurentiusberg“, „Rosenhügel“ und „Sülzenberg“, durch deren Anbauflächen sich ein rund zwei Kilometer langer Weinwanderweg windet.
Ein Startpunkt ist das Gut Sülz, das 966 erstmals urkundlich erwähnt wurde und als Keimzelle von Dollendorf gilt. Von dort geht es sanft bergan, vorbei an einem Regenrückhaltebecken und einem Brunnen, bis rechts eine Treppe in Sicht kommt. Sie führt auf einen Rastplatz, der wie eine Kanzel in die Landschaft ragt und von dem aus der Blick ins Rheintal geht, rechts der Post Tower, der Lange Eugen und die Kreuzbauten im Bonner Bundesviertel, gegenüber die Godesburg und links das Radom der Fraunhofer-Gesellschaft in Wachtberg, links der Drachenfels. Hülle heißt dieses schöne Fleckchen Erde, das von einer Hecke eingefriedet ist. Sechs Holzbänke stehen unter Ahornbäumen, in deren Blattwerk leise der Wind wispert, als bringe er einen Gruß hinunter vom Bussard, der immer noch am Himmel kreist.
So geht's hin
Mit dem ÖPNV und zu Fuß: Vom Meckenheimer Bahnhof aus fährt die RVK-Buslinie 855 über Wachtberg zum Haltepunkt Bad Godesberg-Fähre. Von dort aus geht es mit der Fähre auf die andere Rheinseite. In Niederdollendorf weisen schon Schilder nach Oberdollendorf. Im Weinort geht es bergan Richtung Gut Sülz. Das befindet sich in der Bachstraße. Von dort aus führt der gut ausgeschilderte Weinwanderweg zur Hülle hinauf. Mit dem Auto: In Oberdollendorf bis Bachstraße fahren, dort ist eine begrenzte Zahl an Parkplätzen am Gut Sülz, dann zu Fuß weiter. (dbr)
Der Steinkreis von Oberdollendorf
Auf dem Boden der Hülle sind 18 Basaltsteine zu sehen, die einen Kreis bilden mit einem Durchmesser von knapp elf Metern; zehn Steine liegen scheinbar ungeordnet um den Ring herum. Dieser Steinkreis von Oberdollendorf bietet Anlass zu allerlei Spekulationen. Solchen Gebilden wird eine mythische Bedeutung nachgesagt; der berühmteste Steinkreis ist wohl der von Stonehenge in England, 4000 Jahre alt und heute eine Touristenattraktion. Manche solcher Ringwälle umfassen steinerne Grabhügel, andere schließen nichts ein und können wie der auf der Hülle von allen Seiten betreten werden.
Darüber lohnt sich nachzudenken, am besten auf einer der Holzbänke, deren Sitzfläche so hoch angebracht worden ist, dass die Beine baumeln können. Beginnen wir also bei Josef Schuchert, dem früheren Schriftführer des Heimatvereins Oberdollendorf und Römlinghoven. Auf seine Initiative hin wurde nicht nur 1975 aus Eichenstämmen die Schutzhütte „Rheinblick“ auf der Hülle errichtet, er hat auch eine Schemazeichnung des Steinkreises angefertigt, die Professor Fritz Rogowski und Rolf Brückel in einem Festbuch des Heimatvereins aus dem Jahr 1986 interpretiert haben.
Sie nummerierten jeden der 18 Steine, beginnend im Norden mit 1, und ordneten ihnen „bemerkenswerte Nah- und Fernziele“ zu, aus denen „recht interessante Gesichtspunkte geografischer und astronomischer Art gewonnen“ werden könnten. Verlängert man, wie Rogowski und Brückel es getan haben, mit Hilfe topographischer Karten die Linie über den Stein Nummer 1, stoße man im Norden auf den Michaelsberg in Siegburg mit der Abtei; dann werde die Agger überschritten und die Wahner Heide erreicht. Diese geografische Linie setzen die zwei Forscher mit Gestirnen in Beziehung, an dem in Richtung Norden weisenden Stein Nummer 1 also mit dem Polarstern. Um die Nordrichtung bei Tage festzulegen, haben sie möglicherweise einen Schattenzeiger in die Mitte des Kreises gesetzt, einen Holzstab mit Spitze, an dem der Schatten scharf abgebildet wird. Derlei Interpretationen werden bis Stein 18 fortgesetzt.
Feuerstelle als Zentrum
Als Rogowski und Brückel ihre Erkenntnisse beschrieben haben, befand sich in der Mitte des Rondells offenbar noch ein fingerdicker Eisenstab. Davon ist heute nichts mehr zu sehen, stattdessen bildet eine Feuerstelle mit drei Holzblöcken, von denen aus man in der Glut stochern kann, das Zentrum des 18er-Kreises.
Sollten dessen Erbauer auf Zahlenmystik verweisen wollen, dann ist die 18 im Judentum eine Glückszahl, weil sie „Leben“ bedeutet. Das höchste jüdische Gebet ist das Achtzehngebet, dessen Wurzeln bis in die alte Tempelliturgie zurückreichen. Es enthält 18 Bitten und beginnt mit den Worten „Herr, öffne meine Lippen! Mein Mund verkündige Dein Lob!“
In der Numerologie wird Zahlen über ihre mathematische Bedeutung hinaus eine symbolische Funktion zugewiesen. Sie sind immer einstellig, das heißt, bei mehreren Ziffern wird die Quersumme gezogen, um die einstellige Zahl zu ermitteln. In unserem Fall ergibt die 18 demnach durch Addition der Ziffern 1 und 8 eine 9. Sie steht bei den Numerologen für Vollendung und Vollkommenheit, weil sie mit jeder beliebigen Zahl multipliziert werden kann, die Quersumme ergibt immer die Ziffer 9.
Interview
Drei Fragen an
Hildegard Kaiser (75) aus Bonn hat 1999 eine Ausbildung in psychologischer Astrologie.
Frau Kaiser, welche Rolle spielen Zahlen in der Lebensdeutung?
Fast jeder hat sicher schon gehört, dass die Quersumme seines Geburtsdatums bis zu einer einstelligen Zahl etwas Besonderes über ihn als Menschen aussagt. Wobei der jeweilige Tag und auch der Monat zur weiteren Differenzierung seines Charakters herangezogen werden können. Auch die Buchstaben des Namens lassen sich in Zahlen umwandeln und geben weitere Aufschlüsse. Ein Beispiel: Die Zahl 1 bedeutet Gott, Einheit, Führung oder Schwert.
Was hat Sie veranlasst, sich mit Numerologie zu beschäftigen?
Ich bin mehr oder weniger durch Zufall dazu gekommen, genau wie zur Astrologie, weil ich einfach mehr über den Sinn des Lebens und die Welt als solche wissen wollte. So habe ich viele Bücher gelesen, Kurse und Seminare besucht, Beratungen gegeben, mich mit Gleichgesinnten ausgetauscht und meine eigene Meinung zu Papier gebracht durch mein Buch „Astrologie als Orientierungshilfe“.
Richten Sie Ihr Tun und Handeln nach Zahlen aus?
Nein, das sehe ich nicht so eng. Ich finde es viel interessanter, nachher nachzuschauen und dann eine Bestätigung zu finden, als sich vorher eventuell in seiner Spontanität einzuschränken. Überhaupt nutze ich beides, Numerologie und Astrologie, viel lieber zur Bewusstseinserweiterung und zur Weiterentwicklung auf charakterlicher, mentaler und spiritueller Ebene.
(Dieter Brockschnieder)
Die Zahl 9 hat viele Bedeutungen
Noch mehr über die 9? An hohen Festtagen wird in der katholischen Kirche eine Novene gebetet, eine neuntägige Gebetsabfolge. In der Apostelgeschichte beteten Maria und die Jünger nach Christi Himmelfahrt neun Tage, bis am zehnten Tag das Pfingstwunder geschah. In der griechischen Mythologie gibt es neun Musen für die neun Künste. Ludwig van Beethoven hat neun Symphonien komponiert, Anton Bruckner und Gustav Mahler auch, der vor seiner 9. eine Höllenangst hatte.
Das bringt einen auf der Bank ins Grübeln: Ob das die Schöpfer des Steinkreises alles bedacht haben? Und was bedeuten die zehn außerhalb des Rings liegenden Basaltklötze – hat ein germanischer Obelix hier seine Hinkelsteine abgekippt? Und wie alt ist eigentlich die Anlage auf der Hülle? Fritz Rogowski und Rolf Brückel vermuten, dass sie vor etwa 4000 Jahren, also in der Jungsteinzeit, geschaffen worden ist. 1987 soll es auf dem Aussichtspunkt archäologische Untersuchungen gegeben haben.
Danach war, ganz profan, der Steinkreis im 19. Jahrhundert Standort eines Martinsfeuers. Es wird von diesem kanzelartigen Gebirgsvorbau weit ins Land gestrahlt haben. Inzwischen ist der Bussard verschwunden, am Himmel sind die Wolken dunkel geworden. Zeit, hinabzugehen und im Gut Sülz ein Glas Wein zu kosten.