Was Wohnzimmer über Werte verraten
LINDLAR. Schon ein Blick ins Wohnzimmer verrät viel über seine Bewohner, zeigt, welchen Lebensstil sie bevorzugen, was ihnen wichtig ist, ja auch welche Wertvorstellungen sie vertreten - kurz: welchem Milieu sie angehören.
Zehn verschiedene Milieus unterscheidet die von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene Sinus-Studie, mit der sich zurzeit das Projekt Lebenswertes Lindlar befasst und die bei einem öffentlichen Informationsabend für reichlich Erstaunen sorgte. Denn die Studie, die auf 33 000 Befragungen jährlich basiert, gibt die Milieuverteilung bis auf einzelne Siedlungen und Straßenzüge heruntergebrochen an. Die Bilder prototypischer Wohnzimmer der einzelnen Milieus zeigten bei manchem offenbar Wiedererkennungseffekte: Genau so sieht's bei uns daheim aus, so bei der Familie nebenan.
Wie Menschen ticken, wird dort deutlich, wo sie wählen können wie etwa bei der Alltagsästhetik, erklärt Sinus-Milieu-Studie-Referent Klaus Gerhards. Wie sieht die Einrichtung aus, wie eine mögliche Dekoration, gibt es Bücher oder andere Medien - und: wo steht der Fernseher und welche Größe hat er?
In Lindlar überdurchschnittlich stark vertreten sind laut Studie die Milieus der Bürgerlichen Mitte, der Etablierten und der Postmateriellen, auf der anderen Seite aber auch die der Konsum-Materialisten und Hedonisten (siehe Infotext unten).
Die Industrie arbeite seit Jahrzehnten mit den Milieus, erklärte Hans-Peter Theodor von der Hauptabteilung Seelsorgebereiche des Erzbistums Köln. So verteile etwa ein großer skandinavischer Anbieter von Selbstbau-Möbeln seine Kataloge nur in Gebieten, in denen bestimmte Milieus vorherrschend seien und Möbelbausätze zum festen Einrichtungsrepertoire gehörten.
Wie die Kirche vom Wissen um die Milieuverteilung profitieren kann? Die Milieus können Sehhilfe sein, um Angebote auf bestimmte Zielgruppen abzustimmen. Für welche Menschen sind unsere sozialen Einrichtungen eingerichtet - wer fühlt sich durch eine bestimmte Ästhetik vielleicht nicht wohl?, so Gerhards.
Von einem erfolgreichen, auf Milieus zugeschnittenen Projekt aus der Praxis wusste Dr. Philipp Wittmann vom Katholischen Bildungswerk zu berichten, der das Projekt Lebenswertes Lindlar mit Gemeindereferent Willi Broich leitet. So habe man in der Vergangenheit mit Eltern-Kind-Kursen Konsum-Materialisten schon wegen des Kursnamens nie erreicht. Dann aber habe man auf der Basis der Sinus-Studie ein speziell auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe abgestimmtes Kursprogramm geschaffen, das unter dem Titel Babynest - Leichter Start mit Kind gut angenommen worden sei.
Dass die Sinus-Milieus auch im politischen Alltagsgeschäft hilfreich sein können, erfuhren die zahlreichen beim Informationsabend anwesenden Ratspolitiker, als die nach Kirchengemeinden und damit nach Ortsteilen aufgeschlüsselte Milieuverteilung vorgestellt wurde: Die Verteilung über das Gemeindegebiet ist sehr unterschiedlich, wie eine Karte mit lauter kleinen Kuchen zeigt, deren unterschiedlich großen Stücke die einzelnen Milieus angeben. Zwar sind das keine absoluten Werte - sonst wäre beispielsweise in Lindlar-Ost mit rein gelbem Kuchen ausschließlich die Bürgerliche Mitte zu Hause, aber die Verteilung gibt Tendenzen an, wie Hans-Peter Theodor vom Erzbistum verdeutlichte.
Während im Bereich Linde der Anteil der Konsum-Materialisten mit 37 Prozent sehr hoch ist (Gemeindedurchschnitt: 13 Prozent), leben in Hohkeppel / Schmitzhöhe viele Etablierte (19 Prozent; Gemeinde: ca. 10 Prozent).
In Hartegasse-Süng gibt s insgesamt einen großen Anteil Bürgerliche Mitte. Gerade da gebe es die wenigsten Anmeldungen für die Offene Ganztagsschule, wunderte sich Ratsmitglied Jürgen Dreiner-Wirz. Für Gerhards keine Überraschung: Die Bürgerliche Mitte gibt ihr Kind nicht in die Ganztagsgrundschule.
Vielleicht solle man künftig nicht nur zusehen, dass alle Ortsteile das gleiche Angebot bekämen, sondern stärker auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen, überlegte Ratsherr Dr. Klemens Krieger laut und plädierte dafür, für Ungleichheiten zu sensibilisieren.
Pastor Stephan Pörtner bekannte, viele Wohnzimmer wiedererkannt zu haben, und formulierte als Anspruch und Aufgabe, die Gemeinschaft zu fördern - über Milieugrenzen hinweg. Keine einfache Aufgabe: Es besteht heute vielerorts der Eindruck, dass wir in einem Babylon verschiedener Realitäten leben, Tür an Tür mit anderen, die ein ganz anderes Leben führen, so Klaus Gerhards. Um diese Grenzen zu überwinden, sei es wichtig, vom Gegenüber, vom anderen aus, unsere Kommunikation aufzubauen.