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Ferdinand von SchirachEine zutiefst problematische Skizze

Lesezeit 4 Minuten

Adolf Hitler (m., 1889 - 1945) mit Rudolf Hess (l., 1894 - 1987) und Baldur von Schirach (1907 - 1974)

Köln – Ferdinand von Schirach, Jurist und Schriftsteller, hat sich einen Namen als Verfasser von Kriminalgeschichten gemacht, alle rasant und blendend geschrieben. Jetzt wagt er sich weiter vor, legt einen schmalen Band mit Essays über Themen wie den Terrorismus, über einen jüdischen Fotografen und anderes vor. Und mit einem Beitrag über seinen Großvater, der aber nicht irgendjemand war, sondern eine berüchtigte Größe des Nationalsozialismus, einer aus dem inneren Kreis der verbrecherischen Macht um Adolf Hitler.

Aber warum schreibt Schirach über das schwarze Schaf einer angesehenen Familie, über einen Täter der als einer der Hauptangeklagten bei den Nürnberger Prozessen auftrat, als glühender Nationalsozialist und leidenschaftlicher Anhänger von Adolf Hitler? Ferdinand, der Enkel, lässt uns wissen, dass er Fragen, die immer wieder nach dem Großvater kamen, am liebsten aus dem Wege ging, verständlicherweise. Warum jetzt aber dieser Essay über den ungeliebten Ahnen? Was hat ihn bewegt? Der zu erwartende Erfolg, die Höhe der Auflage, die Sensation?

Ferdinand von Schirach gelingt, das muss man ihm ohne Vorbehalte testieren, die Balance zwischen notwendiger Distanz und anschaulicher Betrachtung. Kein Zweifel, durch die kritische Beschreibung entsteht die – wenn auch zutiefst problematische – Skizze eines Mannes, eben des Großvaters. Aber warum bleibt bei dem Leser und Betrachter ein ungutes Gefühl zurück, wo sich doch der Autor nichts zuschulden kommen lässt? Bei der Annäherung an den Großvater und Kriegsverbrecher erscheint jedes Wort dreimal gewendet, perfekt. Der Schreiber bleibt unantastbar.

Aber ist die offensichtlich persönliche und öffentlich niedergelegte Sicht eines Enkels zu einem Thema, das zu dem verbrecherischsten Staat mit der direkten Blutspur nach Auschwitz führt, erlaubt? Aus der Sicht des Zeitgenossen kaum. Eine Szene aus meiner weit zurück liegenden Vergangenheit: Kaum zwölfjährig, als Mitglied des Jungvolks, bin ich gehalten, im Süden der großen Stadt Köln mit meinem Fähnlein in Reih und Glied anzutreten und in Kolonne stundenlang durch die weiten Straßen hinüber auf die Jahnwiesen zu marschieren. Dort trifft der Trupp auf hundert andere, zumeist aus der Hitlerjugend. In der glühenden Hitze stellen sich die Jungen, nun wohl an die Hunderttausend auf, bevor über die Lautsprecher die bellenden Stimmen der Gebietsführer und endlich des Reichsjugendführers Baldur von Schirach ertönen.

Baldur von Schirach (1907 – 1974) war als Reichsjugendführer der NSDAP und dann als Gauleiter in Wien einer der führenden NS-Politiker.

In den Nürnberger Prozessen wurde er zu 20 Jahren Haft verurteilt, da er als Gauleiter für die Deportation von österreichischen Juden verantwortlich gewesen war. Er wurde 1966 aus der Haft entlassen.

Ferdinand von Schirachs Essay über seinen Großvater ist soeben veröffentlicht worden in dem Band „Die Würde ist antastbar“ (Piper, 144 Seiten, 16,99 Euro). (ksta)

Der Hitlerjugend mit ihren Führern war die Aufgabe gestellt, aus den deutschen Jungen der 30er Jahre überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus zu schaffen, die die bürgerliche Herkunft ihrer Familien zu vergessen hatten, um dem geheiligten Führer zu folgen mit dem Gelöbnis zur Vernichtung des jüdischen Volkes: „Führer befiehl, wir folgen Dir!“ Am Ende des Jahrzehnts, als der große Weltkrieg von Hitler losgebrochen wurde, waren sie die Freiwilligen, das begeisterte Kanonenfutter für den allmächtigen Führer. Baldur von Schirach hatte, ob willens oder nicht, gute Arbeit geleistet.

Kaum zu überbietender Zynismus

Nach der Annektierung Österreichs durch Nazideutschland wurde er Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien. Wo die Nazihorden bei der Auffindung der verängstigten Juden mit unvergleichlicher Brutalität vorgingen. Ganz anders als in den zurückliegenden Jahren in Berlin, wo man noch eine gewisse Rücksicht auf die Öffentlichkeit genommen hatte. Er war zuständig für deren Abtransport in die Konzentrationslager und bezeichnet dies als einen Beitrag zur europäischen Kultur. Dieser Zynismus ist wohl kaum zu überbieten. Das mörderische Wirken Baldur von Schirachs flackert im Essay des Enkels wenig auf. Das Grauen, das er mit dem verbrecherischen System Hitlers über die europäischen Länder brachte, ahnt man nur am Rande.

Genügt das? Sicherlich nicht und der Autor sieht dies in seinem persönlichen Essay auch nicht als seine Aufgabe an. Eine jüngere Generation, die sich mit der verbrecherischen Vergangenheit wenig oder gar nicht beschäftigt hat, läuft Gefahr, bei der Lektüre von Ferdinand von Schirach über seinen Großvater keinen geschönten, aber zumindest einen zurückhaltenden, verkleinerten Eindruck mitzunehmen: „Es war doch alles nicht so schlimm!“ Doch! Es war schlimm. Es war sehr, sehr schlimm!

Schirachs Essay über den Großvater ist bereits im Jahr 2011 im „Spiegel“ erschienen. Es ist nicht bekannt, dass er Aufsehen erregt hat. Das erscheint mir sehr bedenklich. Denn Auschwitz verjährt nicht.