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Rundschau-Debatte des TagesWie schädlich ist das EU-Postengerangel?

Lesezeit 6 Minuten
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni steht neben Ursula von der Leyen, EU- Kommissionspräsidentin, beim Gipfeltreffen der G7-Staaten.

Die Unterstützung von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (rechts) für Ursula von der Leyen scheint nicht bedingungslos zu sein.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen muss sich gedulden: Der Brüsseler Sondergipfel zu den Spitzenposten endete ohne Einigung auf eine zweite Amtszeit für sie.

Das Spitzentreffen am Montagabend in Brüssel begann mit viel Optimismus, doch gegen Mitternacht kam dann die Nachricht: Die Staats- und Regierungschefs haben sich nicht auf ein Personalpaket einigen können, Ursula von der Leyen und die anderen hoffnungsfrohen Kandidaten für die Topjobs müssen noch warten. Das liegt auch am Machtanspruch der Christdemokraten.

Was der Kanzler erwartete

Es war Olaf Scholz selbst, der die Erwartungen für dieses Gipfeltreffen hoch setzte. Er sei sich „ganz sicher, dass wir in kürzester Zeit Verständigung erzielen können“, sagte der deutsche Kanzler (SPD) bei seiner Ankunft am Montagabend in Brüssel voller Optimismus und bezog sich auf die Verteilung der europäischen Spitzenpositionen. Es wäre „wichtig, dass das hier jetzt schnell und zügig entschieden wird, denn wir leben in Zeiten, die schwierig sind“. Für seine Rückendeckung für von der Leyen stellte er vorab aber erneut eine Bedingung: „Im Parlament darf es keine Unterstützung der Kommissionspräsidentschaft geben, die sich auf rechte und rechtspopulistische Parteien stützt“, sagte er. Denn selbst wenn es eine schnelle Einigung auf von der Leyen geben sollte: Im Parlament benötigt sie die Unterstützung von 361 der 720 Abgeordneten.

Welche Namen der Flurfunk nannte

Würde es bei jenen Namen bleiben, die seit Wochen durch die Brüsseler Blase geisterten? Demnach würden die Spitzenkandidatin der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission und die Konservative Roberta Metsola aus Malta an der Spitze des Europäischen Parlaments bleiben, der Sozialdemokrat António Costa aus Portugal würde Präsident des Europäischen Rates, also des Gremiums der 27 EU-Länder, und die Liberale Kaja Kallas aus Estland Chefin der Außenpolitik. Damit wären die drei Parteienfamilien von Europas Mitte bedient, die als die stärksten Kräfte aus den Europawahlen hervorgingen.

Was in der Nacht geschah

Doch die Nachricht, die ein etwas zerzaust wirkender EU-Ratspräsident Charles Michel am Dienstagabend kurz vor Mitternacht einem Pulk von wartenden Journalisten in der Lobby des Ratsgebäudes überbrachte, lautete: „Es gibt keine Einigung.“ Zuvor hatten sich die 27 Staatenlenker bei gebratenem Lachs mit Artischocken ausgetauscht, ohne Handys, ohne Briefings nach außen. Das Ergebnis: Von der Leyen und Co. müssen warten. Dass die Postenvergabe doch nicht so glatt lief, wie Optimisten gehofft hatten, lag vorneweg an einem Treffen der 13 konservativen Staats- und Regierungschefs am Nachmittag. Es war ein Mini-Gipfel, wenn man so will, vor dem eigentlichen Gipfel.

Was die EVP-Familie forderte

Da kamen die Spitzenpolitiker aus der EVP-Familie zusammen, angeführt von Partei- und Fraktionschef Manfred Weber. Der CSU-Politiker und seine Kollegen strotzen derzeit vor Selbstbewusstsein, seit sie aus den Europawahlen als deutliche Sieger hervorgingen. Dieses Ergebnis, so forderten einige, solle sich nicht nur bei der inhaltlichen Ausrichtung der nächsten Legislaturperiode, sondern auch im Personaltableau widerspiegeln. Die EVP will mehr als das, was sie bereits in den vergangenen fünf Jahren hatte. Soll heißen: Mit einem Verbleib von Ursula von der Leyen an der Spitze der Brüsseler Behörde und jenem von Metsola im EU-Parlament wollen sich einige nicht begnügen angesichts der massiven Zugewinne und der potentiellen Neu-Mitglieder.

Bei der Sitzung kam die Idee auf, das Amt des Ratspräsidenten aufzuteilen. Demnach würde ein EVPler nach der Hälfte der Amtszeit von den Sozialdemokraten übernehmen. Zwar wird der Chef des Gremiums der 27 Mitgliedstaaten alle zweieinhalb Jahre gewählt, doch in der Vergangenheit hat sich durchgesetzt, dass der Amtsinhaber stets bestätigt wurde. Das will die EVP nun offenbar ändern. Und formuliert damit zum einen ihren Machtanspruch. Zum anderen herrscht angeblich die Sorge, der Portugiese Costa könnte eine allzu sozialistische Agenda verfolgen.

Wie die Sozialdemokraten reagierten

Die Muskelspiele der Konservativen stießen kaum überraschend auf wenig Begeisterung bei der S&D-Fraktion, die weiterhin den Portugiesen Costa favorisiert – für volle fünf Jahre. Was hat es mit dem Vorschlag der Christdemokraten auf sich? Schielt der kroatische Premierminister Andrej Plenkovic tatsächlich auf den Spitzenposten, wie es hieß? Oder versucht die EVP, die Sozialdemokraten im Machtpoker unter Druck zu setzen, um am Ende nicht zu viele Zugeständnisse machen zu müssen?

Was die Rechtsnationalen verlangen

Ein weiterer Grund, warum das Dinner ohne konkreten Deal zu Ende ging, war offenbar der Einwand der rechtsnationalen EKR-Fraktion. Deren Vertreter hoben nämlich bei der Personaldebatte auch noch den Finger. Zu der Parteifamilie gehört Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Immerhin, so die Argumentation der EKR-Leute, haben die Rechtsaußen-Parteien europaweit zugelegt. Der Erfolg solle sich auch bei den Topjobs niederschlagen – wenn schon nicht bei den „Big 4“, also den vier wichtigsten, sondern eine Ebene darunter. Unterstützung erhielt die Forderung angeblich vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán.

Warum Kritiker in Sorge sind

Die Diskussionen um die Spitzenjobs stoßen einigen bitter auf. So kritisierten etwa die Grünen im Europaparlament das „Postengeschachere“. Die Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Terry Reintke, äußerte sich im Deutschlandfunk „enttäuscht“ über das Treffen der Staats- und Regierungschefs. Wenn nun wieder das „Postengeschachere“ losgehe, gefährde dies die Handlungsfähigkeit der EU, warnte Reintke.

Wie es nun – vermutlich – weitergeht

Selbst ohne Spitzenpersonal kann die EKR auf deutlich mehr Einfluss hoffen. Denn beim EVP-Treffen am Nachmittag einigten sich die Anwesenden auch darauf, „mit wechselnden Mehrheiten“ arbeiten zu wollen, wie ein Teilnehmer im Anschluss berichtete. Je nach Thema würde man sich die Unterstützung „sowohl von rechts als auch von links“ holen, ergo bei Melonis Fratelli d'Italia etwa in Sachen Migration, bei den Grünen, wenn es um Umweltschutzgesetze geht.

Konkret dürfte das Personalpaket beim Gipfeltreffen Ende nächster Woche festgezurrt werden. Dann treffen sich die 27 Staats- und Regierungschefs wieder in Brüssel – und dann soll es, um es in den Worten des Kanzlers zu sagen, wirklich schnell und zügig gehen. (mit afp und dpa)


Nato-Topjob: Ungarn gibt Widerstand gegen Rutte auf

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hat seinen Widerstand gegen die Ernennung des scheidenden niederländischen Regierungschefs Mark Rutte zum neuen Generalsekretär der Nato aufgegeben. Orban teilte am Dienstag mit, Ungarn sei bereit, die Bewerbung von Rutte zu unterstützen. Damit ist dessen Weg als Nachfolger von Jens Stoltenberg so gut wie frei.

Als Grund für sein Einlenken nannte Orban einen Brief Ruttes, in dem dieser auf ungarische Forderungen eingeht. Dabei geht es unter anderem darum, dass Ungarn sich sicher sein will, nicht zu einer Beteiligung an einem geplanten Nato-Einsatz zur Koordinierung von Waffenlieferungen für die Ukraine gedrängt zu werden. Orban befürchtet, dass das Bündnis durch das Projekt in eine direkte Konfrontation mit Russland getrieben werden könnte.

Als einzige Hürde für Rutte gilt noch die öffentlich bisher nicht zurückgezogene Kandidatur des rumänischen Staatspräsidenten Klaus Iohannis für den Nato-Topjob. Iohannis hat allerdings keine relevanten Unterstützer mehr.

Der derzeitige Vertrag des amtierenden Nato-Generalsekretärs Stoltenberg läuft noch bis 1. Oktober. Er hatte angekündigt, den Posten aufgeben zu wollen. Im vergangenen Sommer scheiterten jedoch Versuche der Mitgliedstaaten, sich auf einen Nachfolger zu einigen. (dpa)