Pippi Langstrumpf wird 70Zwölf Dinge, die Sie noch nicht über Pippi Langstrumpf wissen
Pippi war nicht Lindgrens Idee
Im Grunde ist es allein Astrid Lindgrens Tochter Karin zu verdanken, dass es die rothaarige Seeräuber-Tochter mit den Ringelstrümpfen und den großen Schuhen gibt. Karin war sieben Jahre alt und lag mit Lungenentzündung im Bett, als sie quengelte, ihre Mutter solle ihr etwas vorlesen oder erzählen. „Was soll ich denn erzählen?“, fragte Astrid Lindgren, und Karin antwortete: „Erzähl’ von Pippi Langstrumpf!“
„Der Name war mir einfach so eingefallen“, erinnert sich Karin Nyman, die inzwischen 81 Jahre alt ist und selbst einige Kinderbücher geschrieben hat. Abend für Abend dachte sich Astrid Lindgren neue Abenteuer für Pippi aus, erfand die Nachbarskinder Annika und Tommy, die Villa Kunterbunt, und das schwarz-weiße Pferd auf der Veranda.
Hier können Sie einen virtuellen Rundgang durch Astrid Lindgrens Wohnung in Stockholm unternehmen.
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Verleger wollten Pippi erst nicht
Im März 1944 verstauchte sich Astrid Lindgren den Fuß und war gezwungen, das Bett zu hüten. Als Zeitvertreib fing sie an, die Geschichten von Pippi Langstrumpf aufzuschreiben. Das Manuskript schenkte sie ihrer Tochter Karin 1944 zum zehnten Geburtstag. „Ich habe es nur für mein Vergnügen und für das Vergnügen meiner Tochter geschrieben“, sagte sie später darüber.
Das erste Buch über Pippi Langstrumpf erschien 1945 in Schweden und vier Jahre später in Deutschland. Insgesamt erschienen drei Bände, die in 70 Sprachen übersetzt wurden.
Die weltweite Gesamtauflage von Astrid Lindgrens Werken beträgt mehr als 150 Millionen, davon sind rund 66 Millionen Pippi-Langstrumpf-Bücher.
In Schweden gibt es mehr als 40 Filme mit sieben verschiedenen Pippi-Darstellerinnen und über ein halbes Dutzend Pippi-Fernsehserien.
Als sie dann doch eine Kopie des Manuskripts an den Bonnier Verlag schickte, kam eine Absage. Erst als der Verlag Rabén & Sjögren 1945 einen Kinderbuch-Wettbewerb ausschrieb, schickte Astrid Lindgren das leicht abgeänderte Pippi-Manuskript ein und bekam den ersten Preis. 1945 erschien "Pippi Langstrumpf" und wurde zu einem außergewöhnlichem Erfolg - aber auch zum Streitobjekt.
Die Sprache sei vulgär und das Buch demoralisierend, argumentierten Lindgrens Kritiker: "Kein normales Kind", schrieb der geachtete Professor John Landquist in der schwedischen Zeitung Aftonbladet, "isst eine ganze Sahnetorte auf oder geht barfuß auf Zucker. Beides erinnert an die Phantasie eines Irren."
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Pippi ist Kriegswaise
Es ist kein Zufall, dass Astrid Lindgren die Figur Pippi Langstrumpf während der Schrecken des Zweiten Weltkriegs erfand. Pippi ist nicht nur das starke wilde Mädchen mit den verrückten Einfällen, sondern auch ein Kind des Krieges, das sich mit Verlust, Tod und Einsamkeit auseinandersetzen muss: Ihre Mutter ist tot, der Vater (zumindest zunächst) verschollen.
Das 1945 erschienene Buch kann auch als Protest gegen obrigkeitshöriges Denken gelesen werden. Pippi macht sich ihre Welt, wie sie ihr gefällt. Als Gesellschaft voller Toleranz. „Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar!“, hat Lindgren einmal gesagt. Die schwedische Schriftstellerin nahm Kinder ernst, traute ihnen auch schwere Themen zu und zeigte ihnen mit Hilfe von Pippi, wie man in Fantasie und Freiheitsdenken Trost finden kann.
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Wie Pippi nach Deutschland kam
Der Hamburger Verleger Friedrich Oetinger brachte "Pippi Langstrumpf" 1949 auf Deutsch heraus. Er schildert seine erste Begegnung mit Astrid Lindgren in ihrem kleinen engen Büro in einem inzwischen abgerissenen Haus in der Stockholmer Oxtorsgatan so: "Hier in Schweden ist Pippi Langstrumpf ein großer Erfolg geworden, aber sonst nirgendwo", sagte sie ihm auf seine Frage nach den Rechten.
"Fünf deutsche Verleger haben es gehabt und sie alle haben es mir zurückgeschickt". - "Frau Lindgren", sagte Oetinger, "ich kann Schwedisch lesen und das Buch selbst beurteilen." - "Nun gut, versuchen Sie es", war Astrid Lindgrens Antwort. So begann eine lebenslange Freundschaft - und aus dem Wissenschaftsverleger Friedrich Oetinger wurde ein Spezialist für skandinavische Kinder- und Jugendbuchliteratur.
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Politikum in der DDR
Erst 1975 erschien "Pippi Langstrumpf" in der DDR, aber nur in geringer Stückzahl. Der politischen Führung in Ostdeutschland waren Lindgrens Charaktere wohl suspekt: Insgesamt wurden nur vier ihrer Bücher veröffentlicht, alle im Kinderbuchverlag Berlin. 1960 "Mio, mein Mio", 1971 "Lillebror und Karlsson vom Dach", 1975 "Pippi Langstrumpf" und 1988 "Ronja Räubertochter". Die Bücher waren in der Ausstattung sehr einfach, teils nur broschiert und immer mit eigenen Illustrationen.
"Die Bücher wurden in der DDR quasi nur unter dem Ladentisch verkauft", sagt Silke Weitendorf, die Tochter von Lindgrens deutschem Erstverleger Friedrich Oetinger. "Nach der Wende gab es einen fantastischen Erstverkauf unserer Bücher. Am Anfang war die Nachfrage sehr groß."
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Pippi in anderen Ländern
Astrid Lindgrens beliebteste Figur heißt im schwedischen Original "Pippi Långstrump" und mit vollem Namen "Pippilotta Viktualia Rullgardina Krusmynta Efraimsdotter Långstrump". In Deutschland wurde daraus "Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf" – oder einfach "Pippi Langstrumpf". Ihre Abenteuer wurden in 70 Sprachen übersetzt, entsprechend viele verschiedene Namen hat der Rotschopf. Hier eine Auswahl:
China: Changwazi Pippi
England: Pippi Longstocking
Finnland: Peppi Pitkätossu
Frankreich: Fifi Brindacier
Griechenland: Pipe Phakidomyte
Indonesien: Pippi Si Kaus Panjang
Island: Nina Langsokkur
Japan: Nagakutsushita no Pippi
Mazedonien: Pipi dolgiot corap
Polen: Pippi Pónczoszanka
Portugal: Bibi Meia-longa
Serbien: Pipi Dugacka Carapa
Slowakei: Pippi Dlhá Pancucha
Slowenien: Pika Nogavicka
Spanien: Pippa Mediaslargas
Thailand: Pippi Thung-taow Yaow
Türkei: Pippi Uzuncorap issiz köskte
Ungarn: Hariesnyás Pippi
Apropos Übersetzung: Im ersten Band von Pippi, der heute 70 wird, sucht Pippi etwas, das sie einen „Spunk“ nennt. Schließlich lässt sie sich sogar vom Arzt auf „Spunk“ untersuchen, der ihr nach gründlicher „Spunkuntersuchung“ beste Gesundheit bescheinigt.
Astrid Lindgren hatte das Wort „Spunk“ gewählt, weil es ein Wort sein sollte, das es nicht gibt. Im Englischen gibt es dieses aber sehr wohl. Noch dazu kann es dort eine vulgäre Bedeutung haben. Daher wurde in der englischen Übersetzung stattdessen das Wort „Spink“ verwendet.
++ Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Pippi als rassistisch gilt und warum Linksautonome sie trotzdem lieben ++
Pippi und die Rassismus-Vorwürfe
Schon in den Siebzigern gab es wegen der Darstellung von Schwarzen Rassismus-Vorwürfe gegen "Pippi Langstrumpf". Dass sich schwarze Kinder Pippi bei einem Besuch in Afrika vor die Füße werfen, wurde als koloniale Manier gedeutet. Anstoß nahmen Kritiker auch an der Behauptung Pippis, „dass es im Kongo keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag.“
2009 wurde der Text der deutschen Ausgabe vom Oetinger-Verlag überarbeitet und Wörter wie "Neger" und "Zigeuner" entfernt. Pippis Vater wurde vom "Negerkönig" der Originalausgabe von 1945 in "Südseekönig" umbenannt. In der DDR war der Begriff bereits durch "König der Takatukaner" ersetzt worden. Astrid Lindgren hatte eine solche Bearbeitung zu Lebzeiten untersagt.
2014 wurde dann auch die Verfilmung Opfer der Zensur: "SVT hat Elemente, die als anstößig betrachtet wurden, herausgeschnitten", teilte der öffentlich-rechtliche Sender aus Schweden mit. "Unser Publikum sind Kinder, und wir wollen nicht, dass sie sich beleidigt oder verletzt fühlen könnten", wird der Schritt begründet. In der überarbeiteten Fassung der Filmreihe wurde aus "Negerkönig" schlicht "König". In einer anderen Szene formt Pippi ihre Augen zu Schlitzen und tritt als Chinesin auf. Diese Sequenz wurde nun komplett herausgeschnitten.
"Ich gehe jetzt zur Schule! Ich finde es unfair, dass ihr Ferien habt und ich nicht!"
(Es klopft)
Pippi: "Wer draußen ist, der komm herein, es wird ja wohl kein Schneider sein!"
(Zum Tee eingeladen. Sie marschiert rein)
Pippi: "ACHTUNG! Vorwärts! Marsch!"
Geht auf die Frau zu: "Stillgestanden! Hände streck! Gnädige Frau!"
(reicht ihr die Hand und macht einen Knicks)
Pippi: "Rührt euch! Ich war ein bisschen aufgeregt und da hab ich mir die Kommandos ausgedacht. Davon kriegt man nämlich mehr Mut, wissen sie?"
Diebe kommen.
Pippi: "Kommt rein! Oder bleibt draußen, wie ihr wollt!"
(kurzes Gespräch)
Dieb: "Wir wollten nur mal fragen, was die Uhr ist?"
Pippi: "Warum tut ihr's dann nicht?"
"Äh, was?"
"Fragen. Ihr wolltet doch wissen, was die Uhr ist, hast du gesagt!"
"Öh, ja natürlich! Was ist denn die Uhr?"
"Eine Uhr ist ne hübsche Sache und macht immer Tick tack tick tack tick tack."
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Schwester im Geiste für Linksautonome
„In der Hoffnung, dass Sie nicht das Jugendamt alarmieren“ – mit diesen Worten endete Astrid Lindgrens Begleitbrief zu ihrem Manuskript „Pippi Langstrumpf“ an den Verlag Rabén und Sjögren. Das war 1945, und die Schwedin wusste noch nicht, dass ihre Heldin weltweit Karriere machen und wem sie alles als Vorbild dienen würde.
Pippi wohnt allein mit ihren Tieren in einem großen Haus und kann tun und lassen, was sie will; Regeln existieren nicht für sie, auch zur Schule geht sie nicht. Die Staatsmacht, verkörpert durch eine Mitarbeiterin des Jugendamtes - Fräulein Prysselius alias "Prusseliese" - und zwei Dorfpolizisten, kann ihr nichts anhaben. Im Gegenteil, Pippi macht sie lächerlich, wo sie nur kann.
Mit dieser Lebensweise entspricht Pippi Langstrumpf anarchistischen Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben ohne Hierarchien. Nicht von ungefähr schmückt ihr Konterfei zahlreiche Selbstzeugnisse der linksautonomen Szene. Und die Kölnische Rundschau schreibt über die Rebellin:
„Eine Rotzgöre im Lumpenlook mit ritzeroten Zöpfen, die in einer maroden Villa haust und sämtliche Autoritäten ignoriert: Pippi ist eine Autonome und Anarchistin, lange bevor die Jahreszahl 1968 eine Bedeutung bekam. Auch als Erfinderin des Punk – 40 Jahre vor den Sex Pistols – wird sie gerne bezeichnet“ schreibt die Zeitung über Pippi.
Astrid Lindgren selbst war nie daran interessiert, ihre Charaktere zu deuten. Zu Pippi allerdings gestand sie ein: „Wenn ich überhaupt eine bestimmte Absicht mit der Figur der Pippi hatte, dann die, dem Leser zu zeigen, dass man Macht besitzen kann, ohne sie zu missbrauchen.“ Die starke Neunjährige benutzt ihre Kraft höchstens mal, um eine Jungsbande zu verblüffen, die einen Kleineren ärgert.
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Pippi und die Drogen
Was bei "Asterix" durch den Konsum von Zaubertrank erzeugt wird, ist bei der Heldin mit den Sommersprossen der Naturzustand: Pippi Langstrumpf ist so stark, dass sie mühelos ihr Pferd heben kann. Für einen guten Zuckerrausch ist sie immer zu haben, deshalb hat sie im Garten einen Limonadenbaum, an dem donnerstags auch Schokolade wächst.
Vor allem aber steht Pippi für das Paradies einer Kindheit, das auch ihre Freunde Tommy und Annika nicht verlassen wollen: Im letzten Kapitel von „Pippi in Taka-Tuka-Land” schlucken sie gemeinsam die Zauberpille Krummelus (schwedisch: Krumelur), die sie niemals „gruß“ (also erwachsen) werden lassen. „Das ist nämlich gerade der Kniff“, sagt Pippi: Man müsse „gruß“ sagen statt „groß“. „Sonst fängt man erst richtig an zu wachsen.“
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In Deutschland zuerst im Kino
Die schwedische TV-Adaption der Pippi-Abenteuer hat 13 Folgen und wurde im Jahr 1969 ausgestrahlt. Bevor die komplette Reihe für das deutsche Fernsehen synchronisiert wurde, wurden in der BRD zunächst Langfilme für das Kino aus der Serie geschnitten und übersetzt. Erst ab 1971 war hierzulande die TV-Fassung zu sehen, also nachdem schon vier Langfilme mit Inger Nilsson im Kino gezeigt worden waren.
In Schweden folgten auf die TV-Serie die Kinofilme "Pippi in Taka-Tuka-Land" und "Pippi außer Rand und Band", die in Deutschland so übernommen und auch im Fernsehen gezeigt wurden - aufgeteilt in jeweils vier Folgen.
Während in den Filmen Andrea L’Arronge die Rolle der Pippi sprach, wurde Inger Nilsson in allen 21 Folgen der Fernsehserie von Eva Mattes synchronisiert. Auch darüber hinaus unterscheiden sich die Synchronfassungen der Filme und der Serie erheblich. So lieh zum Beispiel Eva Mattes in der Filmversion nicht Pippi sondern Tommy ihre Stimme.
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Was aus der Film-Pippi wurde
Mit der Rolle der Pippi, die Inger Nilsson 1969 und 1970 in den Literaturverfilmungen spielte, wurde die gebürtige Stockholmerin weltberühmt. Was viele nicht wissen: Nach dem Schulabschluss verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt zunächst als Sekretärin, bevor sie später wieder - mit mäßigem Erfolg - vor die Kamera trat.
Deutsche TV-Zuschauer konnten sie 2008 als Gerichtsmedizinerin in der ZDF-Krimireihe "Der Kommissar und das Meer" sehen, bevor sie kurz darauf als Kandidatin in der schwedischen Version des Dschungelcamps für Schlagzeilen sorgte. Hätten Sie den Lindgren-Star wiedererkannt?
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Pippi lebt weiter
Nach Pippi Langstrumpf wurde 1989 eine Rosensorte benannt. Sie hat schon auf vielen Briefmarken als Motiv gedient. Und auch mit einem Schweden-Witz ist sie in die Geschichte eingegangen: "Was heißt 'Kondom' auf Schwedisch?" lautet eine berühmte Scherzfrage. Die Antwort: "Pippi Langstrumpf!"
Zum 70. Geburtstag von „Pippi Langstrumpf“ zeigt Arte erstmals das Leben ihrer Schöpferin Astrid Lindgren – auch mithilfe von eindrucksvollen Fundstücken aus historischen Filmarchiven, bisher unveröffentlichten Privataufnahmen, sowie Tagebucheinträgen. Verwandte und Wegbegleiter schildern in sehr persönlichen Worten ihre Sicht auf die Kinderbuchautorin. Die Dokumentation "Astrid Lindgren" wertet zahlreiche Einträge des in Deutschland bisher unveröffentlichten Materials ihres Kriegstagebuchs aus (siehe Buch-Tipp). Arte, Sonntag, 24. Mai, 22.15 Uhr
In Deutschland wird der Oetinger-Verlag, bei dem die Lindgren-Kinderbücher erscheinen, mit einer Vinyl-Ausgabe des Hörspiels und dem Comic „Pippi Langstrumpf“ an den 70. Jahrestag der Veröffentlichung erinnern. Ein neues Buch von Ullstein erklärt, warum "Pippi Langstrumpf" ausgerechnet 1945 erschienen ist: Sie war eine Art humanistische Widerstandsfigur. Während des Zweiten Weltkriegs führte Lindgren Tagebuch und berichtete voller Abscheu über Judenverfolgung und Deportationen - Erkenntnisse aus ihrer Arbeit für den schwedischen Geheimdienst, für den sie im Krieg zeitweise Briefe ausgewertet hat. In Schweden sind ihre Aufzeichnungen gerade erschienen, die deutsche Übersetzung kommt (leider erst) im Oktober. Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945, 512 Seiten, Ullstein