Organische Ursachen„Der macht ja noch in die Hose“

Jungs sind öfter betroffen als Mädchen: Oft wächst die Blase bei Kindern nicht so schnell wie die „Pipi-Menge“. (Foto: dpa)
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BERGISCH GLADBACH – Leon ist fast sieben, ein aufgewecktes Kerlchen. Schon bevor er dieses Jahr in die Schule kam, konnte er lesen, und sogar das kleine Einmaleins schnurrt er fast fehlerfrei herunter. Es könnte alles perfekt sein. Nur eins macht Mutter Heike Kummer: „Leon macht immer noch manchmal in die Hose, auch nachts kommt das vor“, berichtet die 33-Jährige. „Das ist doch peinlich für ein Schulkind“, versucht Heike ihren Filius bei der Ehre zu packen.
„Falsch“, hält Dr. Stefan Machtens dagegen. Der Spezialist für Kinderurologie am Marienkrankenhaus in Bergisch Gladbach plädiert für einen „gelassenen“ Umgang mit dem Phänomen: „Durch strenge Reaktionen verschlechtert sich die Situation definitiv“, hat der Spezialist beobachtet, egal, welche Ursache sie habe. Überhaupt spreche man erst nach dem sechsten Lebensjahr vom „Einnässen“, wenn Kinder öfter als zwei Mal die Woche in die Hose machen. Vorher, so Machtens, „ist der gelegentliche Verlust von Urin durchaus normal, sogar bis zu zehn Prozent der Siebenjährigen haben das noch“. Dann allerdings sei der Besuch beim Kinderarzt angesagt.
Wenn Kinder das Pipi nicht halten können, gibt es dafür zum einen primäre, das heißt organische Ursachen, betont Dr. Machtens. „Oft ist die Urinmenge schlicht zu groß für die kleine Blase“, erklärt er. „Grund dafür ist eine Unterproduktion des sogenannten antidiuretischen Hormons (ADH), das normalerweise dafür sorgt, dass größere Mengen Urin in den Nieren abgebaut werden.“ So kann der Mensch im Allgemeinen nachts durchschlafen, ohne auf die Toilette zu müssen. Dieses Hormon bildet sich zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr, manchmal verzögert sich der Prozess jedoch – bei Jungs kommt das doppelt so häufig vor wie bei Mädchen. „Das wächst sich aus“, beruhigt der Urologe.
Mädchen dagegen, so Machtens, „leiden häufiger unter Harnwegsinfektionen“. Auch eine krankhafte Blaseninstabilität, unwillkürliche Kontraktionen, Kinderdiabetes oder neurologische Erkrankungen könnten – in seltenen Fällen – Ursache für die Inkontinenz sein. Dies könne medizinisch behandelt werden.
„Viel häufiger ist allerdings die erbliche Komponente“, stellt der Spezialist klar. „Das ist kaum bekannt, aber in Studien zweifelsfrei bewiesen: Wenn ein Elternteil selbst unter kindlicher Blasenschwäche gelitten hat, liegt die Wahrscheinlichkeit der Vererbung bei 40 Prozent, bei beiden Eltern sogar bei 80 Prozent“, erklärt Machtens.
Wenn organische Defekte ausgeschlossen worden sind, „müssen wir nach sekundären Ursachen suchen“, sagt der Urologe. „Waren Kinder schon trocken und nässen nach einer gewissen Zeit wieder ein, stimmt in 80 Prozent der Fälle irgendetwas in ihrem Umfeld nicht.
Das kann ein Umzug sein, eine Trennung, Tod, die Geburt eines Geschwisterchens – oder der Schulanfang, der mit Stress verbunden ist.“ Diese Kinder, so Machtens, „empfinden die Inkontinenz als stark belastend“. Sie meiden Sport oder Ausflüge, isolieren sich, schämen sich, fühlen sich als Versager. Andere versuchen, mit der Strategie Zuwendung herauszukitzeln.
In beiden Fällen ist besonderes Fingerspitzengefühl gefragt: „Keine Vorwürfe, kein Zwang, keine Herabsetzung“, warnt Machtens. „Jetzt ist es besonders wichtig, Ruhe zu bewahren.“
Insgesamt plädiert Machtens durchaus für ein frühes Toilettentraining, „aber ohne Zwang“. „In den 60er Jahren haben 90 Prozent der Kinder unter einem Jahr schon damit angefangen, indem sie aufs Töpfchen gesetzt wurden“, erinnert sich Machtens auch an seine eigene Kindheit, „und das nicht einmal ungern.“ In der Generation Pampers kennen das nur noch zehn Prozent der Kinder. Folge: Der „Klo-Reflex“ funktioniert heute einfach später.