Der Amoklauf von Euskirchen
Jeden Morgen, wenn Ernst R.P. Tkocz über die Kölner Severinsbrücke fährt, schaut er zum Dom hin und dankt Gott dafür, dass er noch lebt. Jeden Morgen seit jenem Tag vor nunmehr zehn Jahren. Jenem schicksalhaften Tag, der sein Leben veränderte. Als aus einem ganz normalen Termin vor dem Amtsgericht Euskirchen kaum zu ertragendes Grauen wurde. Der Tag, als Rechtsanwalt Ernst R.P. Tkocz aus Bergisch Gladbach in einen Amoklauf geriet.
Es war der 9. März 1994, mittags kurz vor eins. Tkocz ist zum Gericht in Euskirchen gekommen, um seinen Mandanten Peter Preuß zu vertreten, der wegen eines Verkehrsdelikts angeklagt ist. Sie müssen warten, denn der Fall, der vor dem ihren verhandelt wird, zieht sich in die Länge. Der 39-jährige Erwin Mikolajczyk hat seine Ex-Freundin verprügelt und wird von Amtsrichter Alexander Schäfer zu 7200 Mark Geldstrafe verurteilt. Ohne die Urteilsbegründung abzuwarten, verlässt Mikolajczyk aufgebracht den Saal.
Tkocz denkt sich nicht viel dabei. Als Strafverteidiger hat der damals 46-Jährige vor Gericht einiges erlebt. Auch die Gummikleidung des Mannes, das aus Knoblauch geflochtene Kreuz um den Hals und der schwarze Rucksack kommen ihm nicht verdächtig vor. Selbst als sich die Ex-Freundin Mikolajczyks, Vera Lamesic, 56, an den Richter wendet und sagt, sie habe Angst, dass ihr Ex-Freund ihr etwas antun könnte, schwant ihm nichts Böses. Wie sollte er auch ahnen, dass sich im Gerichtssaal im nächsten Moment Unfassbares abspielen würde.
Tkocz hat bereits neben seinem Mandanten auf der Anklagebank Platz genommen, als er Vera Lamesic draußen schreien hört: „Er schießt um sich.“ Dann fallen Schüsse. Der Richter greift zum Telefon. Mikolajczyk ist vor der Tür. Er stößt sie gewaltsam auf. Mit gezogener Pistole stürzt er in den Saal. Der großkalibrige Colt brüllt auf. Eine Kugel tötet Agnes Müller, eine weitere Marianne Rübsam, beides Freundinnen Lamesics. Von zwei Kugeln tödlich getroffen bricht Richter Schäfer zusammen. Tkocz' Mandanten Peter Preuß schießt der Amokläufer in den Kopf. Und auch den Zeugen Peter Kurth richtet er kaltblütig hin.
Der nächste, auf den der Blick des Mörders fällt, ist Tkocz. Er steht wie erstarrt da. Im Geiste hat er die Schüsse mitgezählt, „kühl bis ans Herz“, wie er sagt. Sechs Schüsse meint er, gehört zu haben. Hoffnung keimt auf. Das Magazin müsste leer sein. Doch Mikolajczyk hebt die schwere Waffe, und wieder blitzt Mündungsfeuer auf. Instinktiv dreht sich Tkocz zur Seite. Das Projektil zerschmettert seinen linken Oberarmknochen, durchschlägt den Brustkorb und bleibt wenige Millimeter vor der Luftröhre stecken.
Es war die letzte Kugel im Magazin. Mikolajczyk fummelt an seinem Rucksack herum. Tkocz, trotz seiner schweren Verletzung bei Bewusstsein, flieht aus dem Saal. Wenig später erschüttert eine Detonation das Gebäude. Der Amokläufer hat sich mit einer Bombe selbst getötet und dabei noch weitere Menschen verletzt. Tkocz gelingt es noch, seine Frau anzurufen - dann schwinden ihm die Sinne.
Zehn Jahre später. Rechtsanwalt Tkocz sitzt in seiner Kanzlei am Hohenstaufenring in Köln. Lange hat er geredet, nun schweigt er. Hinter ihm hängt eine getrocknete Rose an der Wand. Auf seinem Schreibtisch steht ein gerahmtes Bild seiner Frau. Er schaut sein Gegenüber mit festem Blick an, an seinem Hals tritt eine Sehne hervor. „Damals erlebte ich meine zweite Geburt“, sagt er schließlich. Fünf Mal wurde er operiert. Ärzte setzten ihm eine Titanschiene ein, und mit Knochen aus seinem Becken wurde der Arm stabilisiert. Körperlich ist wenig zurückgeblieben von jenem Anschlag auf sein Leben. Sein linker Arm ist etwas kürzer als zuvor, und er kann nicht mehr Geige spielen, weil der Arm taub dabei wird. Die seelischen Verletzungen jedoch sind tiefer.
Besonders in den ersten Monaten nach dem Amoklauf war die Erinnerung für Tkocz quälend. Jede Nacht hatte er Albträume. Bilder grauenvoller Details verfolgten ihn. Details wie der Anblick der toten Vera Lamesic. Die Frau mit den langen, feuerroten Haaren lag in einer Lache Blut. Auch Schuldgefühle peinigten ihn. Hätte er etwas tun können, um die Menschen im Saal zu retten? Hätte er den Tisch gegen Mikolajczyk schleudern, ihm in den Arm fallen sollen? Warum hatte ausgerechnet er überlebt?
Mancher wäre an der Belastung zu Grunde gegangen. Doch Tkocz kämpfte. Und vielleicht rettete ihm seine Frau Gudrun das Leben. Sie wich ihm monatelang kaum von der Seite. Sie führten intensive Gespräche, und als Tkocz das Bett verlassen konnte, unternahmen sie lange Spaziergänge. „Ich habe diese Sache mit meiner Frau regelrecht abgearbeitet“, sagt Tkocz. „Ihre Hilfe und die Welle der Dankbarkeit von Freunden und Mandanten haben mir geholfen, meine seelische Harmonie wiederzufinden.“
Schon ein halbes Jahr später saß Tkocz wieder in seiner Kanzlei. Er konnte den Telefonhörer kaum halten, doch er wollte arbeiten. Wollte wieder zurück in sein altes Leben, aus dem ihn ein Unbekannter so jäh herausgerissen hatte. Wollte sich wieder vor seine Mandanten stellen können, wie er sagt. Wollte „Schutz und Schild“ für sie sein. Und sich selbst beweisen, dass es weiter geht. Einen neuen Aktenkoffer hatte seine Frau ihm gekauft. Symbol für den Wiederanfang.
Tkocz hält einen Moment inne, als er das erzählt. Sonnenstrahlen fallen von links auf sein Gesicht. Er erlaubt es sich nicht, den Blick zu senken. In seinen blauen Augen glitzern Tränen. Aber sie könnten auch von der Sonne kommen. Dann sieht er das Bild seiner Frau an.
„Die Erinnerung ist immer präsent“, fährt Tkocz nach einer Weile fort. Einen tiefen Einschnitt nennt er die Ereignisse jenes 9. März. Vieles sei anders geworden seither. Die Fixpunkte seines Lebens haben sich verschoben. Früher, als junger, selbstständiger Anwalt, stand die Arbeit an erster Stelle. Viel Zeit verbrachte er damit - seine Kinder, seine Frau standen oft hintan. Heute arbeitet er nicht mehr so viel. „Ich nehme mir Zeit für die wirklich wichtigen Dinge“, sagt er. Für Gespräche, fürs Spazierengehen, für ein gutes Essen oder gute Musik. „Wenn man das erlebt hat, ist man glücklich über jeden neuen Tag.“ Und so fährt Tkocz jeden Morgen über die Brücke, sieht zum Dom hin, horcht in sich hinein und findet so etwas wie Frieden.