Viele Menschen, die nach Deutschland kommen, haben Dinge erlebt, die sich viele kaum vorstellen können. Doch die benötigte Hilfe bekommen sie oft nicht. Experten warnen vor langfristigen Folgen.
Das stille LeidenViele Geflüchtete sind traumatisiert – und warten lange auf Hilfe
Friederike Schwarzkopf kennt die brutalsten Geschichten. Ihr gegenüber sitzen Menschen, die ein Ausmaß an Gewalt erlebt haben, das sich die meisten Deutschen vermutlich nicht vorstellen können. Menschen, die aufgrund ihrer politischen Haltung verfolgt und gefoltert wurden. Die unter grausamsten Bedingungen in Haft saßen und Angehörige verloren haben.
Frauen, die misshandelt wurden, einfach nur, weil sie Frauen sind. Natürlich hinterlässt das Spuren: körperliche Narben und tiefe seelische Wunden. Wie man diese heilt, so gut das eben geht, damit beschäftigt sich Schwarzkopf. Die 35-jährige Psychotherapeutin arbeitet im Zentrum Überleben in Berlin. Hier beraten und betreuen sie Asylsuchende mit traumatischen Erfahrungen. Erwachsene, Jugendliche, Kinder.
Ziel der Traumatherapie: Vertrauen in zurückgewinnen
Die Klienten sollen wieder Vertrauen in Menschen gewinnen, sagt Schwarzkopf. „Außerdem helfen wir ihnen dabei, in den ersten Wochen und Monaten nach der Ankunft eine Alltagsstruktur aufzubauen.“ Gerade für traumatisierte Menschen sei das wichtig, betont sie, um in einer unbekannten Umgebung anzukommen.
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Wissenschaftler gehen davon aus, dass fast neun von zehn Geflüchteten in Deutschland traumatisiert sind. Lässt man sie damit alleine, kann das schwere Folgen haben. Viele Betroffene werden krank, können nicht arbeiten, haben viel Mühe, sich zu integrieren und die neue Sprache zu lernen. Das sind noch die harmlosesten Folgen.
Manche verlieren die Kontrolle, entwickeln suizidale Absichten – oder werden in Ausnahmefällen zur Gefahr für andere. Wie Ibrahim A., der im Januar 2023 zwei Menschen in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein tötete. Der Täter soll sich in einer psychischen Krise befunden haben. In dieser Woche wurde er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Viele Flüchtlinge sind gleich mehrfach traumatisiert
Das Problem ist in der Politik bekannt. Bereits 2018 warnte die Leopoldina vor „gravierenden Konsequenzen“, sollte traumatisierten Geflüchteten nicht schnell geholfen werden. Doch nur ein winziger Bruchteil erhält tatsächlich psychische Unterstützung.
Im Zentrum Überleben kümmern sich Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und Dolmetscher um rund 600 Patienten pro Jahr. Das Angebot reicht von verschiedenen Therapieansätzen, medizinischer Versorgung bis zur Sensibilisierung in Behörden. Oft haben die Betroffenen nicht nur eine schockierende Erfahrung gemacht, erzählt Schwarzkopf, sondern sind gleich mehrfach traumatisiert.
Nach den verstörenden Erfahrungen in den Heimatländern komme es häufig vor, dass Menschen auch auf der Flucht Schlimmes erleben, wie Polizeigewalt und lebensbedrohliche Situationen auf der Überfahrt nach Europa.
Etwa 30 Prozent mit posttraumatischer Belastungsstörung
In Deutschland angekommen, erklärt die Therapeutin, kann dann eine dritte Phase der Traumatisierung einsetzen. Sogenannte Postmigrationsstressoren, die grundsätzlich alle Menschen mit Fluchtgeschichte betreffen: unsichere Bleibeperspektive, prekäre Verhältnisse in den Sammelunterkünften, eingeschränkte Rechte und auch Diskriminierungserfahrungen.
Wie viele Geflüchtete eine Therapie brauchen, ist nicht klar. Es gibt aber Anhaltspunkte. Laut Forschern haben etwa 30 Prozent der Schutzsuchenden mit den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen. Aktuell halten sich hierzulande rund 3,1 Millionen Schutzsuchende auf.
Die Patienten, die Friederike Schwarzkopf und ihre Kollegen behandeln, wohnen üblicherweise in Erstaufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünften. Für Personen mit einem schweren Trauma sind das denkbar ungeeignete Orte. „Es ist laut, die Menschen können kaum zur Ruhe kommen, müssen sich mit anderen ein Zimmer teilen, es gibt keine Privatsphäre.“ Bei den Betroffenen löse all das Flashbacks aus, „ein Kernproblem der posttraumatischen Belastungsstörung“.
Das Zentrum Überleben ist eines von 47 psychosozialen Zentren in der Bundesrepublik. Ohne sie würde es vielerorts gar keine Hilfe für seelisch kranke Schutzsuchende geben. Doch im Versorgungsbereich klafft eine erhebliche Lücke. Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) hat berechnet, dass auf eine halbe Million Behandlungsbedürftige 20000 Plätze kommen. Pro Jahr erhalten also nur vier Prozent der Betroffenen einen Therapieplatz.
Liegt die Ursache der Probleme im Gesetz?
In den Einrichtungen macht sich die Schieflage zwischen Angebot und Nachfrage bemerkbar. „Viele psychosoziale Zentren arbeiten schon gar nicht mehr mit Wartelisten, sondern entscheiden nach Dringlichkeit“, sagt BafF-Geschäftsführer Lukas Welz. Ansonsten müssten die Patienten im Schnitt sieben Monate auf eine Behandlung warten.
Woher kommt die starke Auslastung? Den Hauptgrund sieht Welz im Asylbewerberleistungsgesetz, das den Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen regelt. Bis auf akute Erkrankungen sind Geflüchtete, die noch auf einen Asylentscheid warten oder nur geduldet sind, von der medizinischen Regelversorgung ausgeschlossen. Eine psychotherapeutische Unterstützung bei niedergelassenen Therapeuten sei nicht möglich, kritisiert Welz. Nur etwa nach Suizidversuchen gebe es Anspruch auf eine medikamentöse Behandlung in der Psychiatrie.
Durch das kürzlich verabschiedete „Rückführungsverbesserungsgesetz“ müssen Asylsuchende künftig drei statt eineinhalb Jahre warten, bis sie volle Sozial- und Gesundheitsleistungen bekommen. Welz warnt vor möglichen Konsequenzen: „Wenn die Menschen keine Behandlung bekommen, droht die Gefahr der Chronifizierung. Das psychische Leid verstetigt sich und führt zu dauerhaften, gesundheitlichen Schäden, die nur noch schwer therapierbar sind.“
Eigentlich dürfte das gar nicht passieren: „Deutschland hat sich rechtlich dazu verpflichtet, Überlebenden von Folter und Verfolgung zu helfen.“ So schreibt eine verbindliche EU-Richtlinie den Mitgliedstaaten vor, die Behandlung von psychischen Störungen bei Schutzsuchenden zu garantieren. Auch durch die Ratifikation der UN-Antifolterkonvention ist Deutschland verpflichtet, Folteropfer eine vollständige Rehabilitation zu ermöglichen.
Ein weiteres Problem sei die unsichere Finanzierung, sagt Welz. Die psychosozialen Zentren werden von EU-Mitteln gefördert, auch Bund, Länder und Kommunen beteiligen sich. Allerdings fließen die Gelder nur für einen begrenzten Zeitraum, danach müssen neue Förderanträge gestellt werden.
Laut Welz sei es aber notwendig, die Einrichtungen nicht nur mit einer ausreichenden, sondern einer dauerhaften Finanzierung abzusichern. Nun hat ausgerechnet einer der wichtigsten Geldgeber, der Bund, seine Mittel für dieses Jahr gekürzt: von 17 auf 13 Millionen Euro. Das sei lächerlich wenig, klagt Welz.