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Präsident Erdogan wird 70„Möge er uns erhalten bleiben“

Lesezeit 6 Minuten
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei

In dem Bemühen um politische Öffnung hat er einen Alleinherrschaftsanspruch etabliert. Erdogan hat zweifellos das Land verändert, aber nicht alle sind mit seinem Weg einverstanden.

Eiskalter Wind fegt durch die Vorhöfe der Moschee, die vorläufig nach dem Stadtteil Camlica benannt ist und eines Tages Recep-Tayyip-Erdogan-Moschee heißen soll – so kündigten es die Gefolgsleute des Staatspräsidenten bei der Eröffnung an. Touristengruppen lauschen frierend den Reiseführern, die Superlative aufzählen: 65000 Gläubige fasst das Gotteshaus zum Gebet, 100000 Menschen soll sie nach einem möglichen Erdbeben beherbergen. „Ich kenne kein größeres Glück, als dieser Stadt große Werke hinzuzufügen“, verkündete Erdogan bei der Eröffnung vor vier Jahren. Gott habe ihm die Gunst gewährt, ihr mit Tunnels und Brücken seinen Stempel aufzudrücken – nun dürfe er ihr diese Moschee schenken.

Dass Erdogan die Türkei geprägt hat wie kein anderer Politiker seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, streiten selbst seine vielen Gegner im Land nicht ab. Beton und Asphalt zeugen davon: Als Erdogan seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2002 an die Regierung brachte, gab es in der Türkei nur 6000 Kilometer an vierspurig ausgebauten Überlandstraßen – heute sind es über 20000 Kilometer. Die Zahl der Flughäfen im Land stieg von 26 auf fast 60. Erdogan reformierte das Gesundheitssystem und machte türkische Kampfdrohnen zu einem Exportschlager.

Anwohner und Passanten im Camlica-Viertel um die Moschee wissen das alles zu schätzen. „Wir müssen nur daran denken, wie das Land früher aussah und was er daraus gemacht hat“, sagt ein Rentner namens Ilhan, der vor der Moschee frisches Wasser aus einem Hahn in Plastikflaschen zapft – das Brunnenwasser sei besonders rein, sagt er. Der 63-jährige erinnert sich mit Grausen daran, wie er früher mit dem Bus aus seiner Heimat im südostanatolischen Van zur Arbeit nach Istanbul pendelte. „Damals saß ich 35 oder 36 Stunden im Bus, heute bin ich mit dem Flugzeug in zwei Stunden da, noch vor dem Frühstück“, ruft Ilhan aus – das habe er Erdogan und seinem Infrastrukturprogramm zu verdanken. „Und wie die Straßen damals aussahen! Heute gibt es gute Straßen im ganzen Land, die hat Erdogan gebaut. Wenn wir das nicht loben würden, wären wir undankbar.“ Auch die Rüstungsindustrie erwähnt der Rentner – früher habe die Türkei ihre Waffen aus dem Ausland kaufen müssen, heute stelle sie alles selbst her.

Von der politischen Öffnung hin zur Alleinherrschaft

Nicht nur neue Waffen, auch eine neue Ideologie verpasste der Präsident seinem Land. In einem jahrelangen Machtkampf zertrümmerte er den nach Atatürk benannten Kemalismus, ein verknöchertes System aus Autokratie und religionsfeindlichem Laizismus, das vor allem dem Machterhalt der traditionellen Eliten in Bürokratie, Justiz und Militär diente. Erdogan schaffte das Kopftuchverbot an Universitäten und im öffentlichen Dienst ab und ermöglichte den Aufstieg einer neuen islamisch-konservativen Führungsschicht. Das brachte ihm Millionen loyale Wähler ein.

Erdogans Programm einer politischen Öffnung in der Außen- und Innenpolitik, symbolisiert durch den türkischen EU-Beitrittsprozess und Verhandlungen über eine friedliche Lösung der Kurdenfrage, wich im Laufe der Jahre einer Alleinherrschaft, die er 2018 mit der Einführung eines stark zentralisierten Präsidialsystems festschrieb. Heute kontrolliert er Politik, Armee, Medien und Justiz. Er lässt politische Gegner und Journalisten einsperren, schickt türkische Truppen nach Syrien und pfeift auf EU-Standards bei Bürgerrechten wie der Meinungsfreiheit. Erdogans Kritiker beklagen Korruption, Vetternwirtschaft und Demokratie-Abbau, sind aber unter sich so zerstritten, dass sie den „Langen“, wie sie den 1,90-Meter großen Präsidenten nennen, bisher nicht von der Macht verdrängen konnten.

Seine Anhänger verehren Erdogan als starken Mann an ihrer Spitze. „Erdogan arbeitet, er schafft, er ist fleißig“, sagt der Frisör Baris beim Schwatz mit Nachbarn am Brunnen vor der Moschee. „Ohne ihn wären wir nicht so weit gekommen.“ Der Präsident stammt selbst aus einem solchen Arbeiterviertel. Als Sohn kleiner Leute wurde er in Kasimpasa am Goldenen Horn geboren und besuchte eine Schule für islamische Prediger. Als junger Mann stand er vor einer Laufbahn als Profi-Fußballer, bis sie ihm vom Vater verboten wurde. Stattdessen studierte er Betriebswirtschaft und engagierte sich in der Bewegung des islamistischen Politikers Necmettin Erbakan.

An die Spitze gearbeitet gegen viele Hürden

Sein Durchbruch kam bei der Istanbuler Oberbürgermeisterwahl vor fast genau 30 Jahren. Im März 1994 wurde er zum Stadtoberhaupt gewählt und verschaffte sich durch effiziente und bürgernahe Arbeit viel Respekt. Das macht ihn zum gefährlichen Gegner der damaligen kemalistischen Elite, die ihn wegen angeblicher Volksverhetzung einsperren und mit einem Politikverbot belegen ließ. Nicht einmal Dorfvorsteher könne Erdogan noch werden, spottete die Presse damals.

Der Ex-Bürgermeister bewies seinen Gegnern das Gegenteil. Im März 2003 wurde er als Ministerpräsident vereidigt, seit 2014 ist er Präsident. Eine ganze Generation Türken hat nie einen anderen Mann an der Spitze des Landes erlebt. Ans Aufhören denkt Erdogan trotzdem nicht. Zuerst will er bei den Kommunalwahlen im nächsten Monat die Macht in Istanbul für die AKP zurückerobern. Dann will er sich mit einer Verfassungsänderung eine weitere fünfjährige Amtszeit nach der nächsten Wahl 2028 ermöglichen.

In seiner langen Zeit in hohen Staatsämtern hat sich Erdogan seine persönliche Grundüberzeugungen bewahrt. Er sieht sich als Vertreter der frommen Anatolier – europäisch orientierte Türken sind ihm bis heute fremd. Kritik und Protest wie bei den Gezi-Unruhen von 2013 versteht er häufig als Umsturzversuche. Wie viele Türken ist er überzeugt, dass westliche Einflüsse darauf abzielen, das Land und den Islam zu schwächen.

Erdogans eigenes Denkmal

Die Camlica-Moschee ist als Bollwerk dagegen zu verstehen. Die Minarette des Gotteshauses im islamisch-konservativen Bezirk Üsküdar im anatolischen Teil von Istanbul sind exakt 107,1 Meter hoch – als Erinnerung an die Schlacht von Manzikert im Jahr 1071, in der die muslimischen Seldschuken die christlichen Byzantiner besiegten. „Als Gesellschaft dürfen wir unsere Vergangenheit nicht vergessen und müssen für unsere Zukunft sorgen“, sagt der 25-jährige Angestellte Dogukan, der an einer Bushaltestelle vor der Moschee wartet. „Dafür ist und bleibt Recep Tayyip Erdogan der beste Mann.“

Und der einzige, hätte Dogukan hinzufügen können, denn Erdogan hat keinen designierten Nachfolger. Insbesondere wenn er Gesundheitsprobleme hat wie im vergangenen Jahr, als er vor laufender Kamera einen Schwächeanfall erlitt, wird spekuliert, wer Erdogan beerben könnte. Dann werden der Präsidenten-Schwiegersohn und Drohnenfabrikant Selcuk Bayraktar oder Erdogans Sohn Bilal als Kandidaten genannt, doch keiner von beiden hat eine eigene politische Hausmacht oder die nötige Erfahrung, um ein ganz auf den Präsidenten zugeschnittenes System zu lenken.

Selbst der „Boss“ hat seine Probleme mit diesem System. Er bekommt die Inflation nicht in den Griff. Korruption und Pfusch am Bau waren mitverantwortlich für den Tod von 50.000 Menschen bei dem schweren Erdbeben im vergangenen Jahr. Die Abwanderung gut ausgebildeter Türken ins Ausland hat Rekordmaße erreicht. Erdogan kann von Glück sagen, dass die Opposition den Wählern keine überzeugenden Alternativen bieten kann.

Denn bei aller Bewunderung für ihren Präsidenten sehen viele Türken auch, was im Land falsch läuft. Inflation und sinkende Reallöhne bringen Millionen in Existenznot. „Es ist schwer geworden, hier zu leben“, sagt die 78-jährige Witwe Nazim im Camlica-Viertel nahe der Moschee. „Es gibt so viele Probleme, dabei wollen die Leute nichts als ein gutes Leben.“ Auch sie hält große Stücke auf Erdogan, doch unersetzlich ist der Präsident für sie nicht: „Wer die Probleme bewältigen kann, der soll regieren.“