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StaatenlosigkeitEdward Grigorjan kämpft um eine Staatsangehörigkeit – und scheitert an Bürokratie

Lesezeit 6 Minuten
Einen Reisepass kann Edward Grigorjan nicht vorweisen.

Einen Reisepass kann Edward Grigorjan nicht vorweisen.

Edward Grigorjan ist in Deutschland geboren, zur Schule gegangen, hat einen Job – und trotzdem kann er kein Deutscher werden. Denn dafür müsste er erst einmal eine andere Staatsbürgerschaft aufgeben. Doch er hat keine.

Verhaften die mich jetzt? Edward Grigorjan hat Angst. Seit Stunden werden er und zwei Freundinnen an der kroatisch-slowenischen Grenze festgehalten. Die Polizei hat sie bei einer Routinekontrolle herausgepickt. Sie sind auf dem Heimweg von einer Urlaubsreise. Edward zieht eine pink-blaue Plastikkarte hervor, mit Lichtbild und Hologramm. Unten auf dem amtlichen Dokument steht kleingedruckt „Ausweisersatz“. Doch das genügt den Grenzern nicht. Sie wollen einen „offiziellen“ Pass sehen und drohen, ihn wegen des illegalen Grenzübertritts in Haft zu nehmen. Auch Telefonate mit den deutschen Behörden helfen nicht weiter. Irgendwann lässt ein Polizist die Gruppe weiterfahren.

„Die wussten nicht, was sie mit mir machen sollen“, sagt Edward und muss lachen. Die Geschichte aus dem vergangenen Sommer scheint ihm immer noch absurd vorzukommen. Edward Grigorjan ist 25 Jahre alt. Er hat sein ganzes Leben in Deutschland verbracht und besitzt eine Geburtsurkunde. 1998 wurde er in Minden an der Weser geboren, ist hier zur Schule gegangen, hat eine Ausbildung als Arzthelfer in einer Suchtpraxis gemacht, ist dort angestellt, zahlt Steuern. Er lebt in der Nähe von Bielefeld. Eine ganz gewöhnliche Biografie, aber nur eigentlich. Kein Land der Welt erkennt Edward als seinen Bürger an. Der junge Mann mit dem Mittelscheitel und nussbraunen Augen ist staatenlos.

In Deutschland leben rund 125000 Menschen ohne Staatsangehörigkeit. Sie gelten als besonders vulnerabel. Im Ausländerzentralregister (AZR) sind etwa 25000 anerkannte Staatenlose gelistet. Für sie gibt es einen weltweit gültigen Reiseausweis. Und sie können sich einbürgern lassen, wenn sie Bedingungen erfüllen, die auch für ausländische Staatsbürger gelten.

Edward Grigorjan gehört nicht zu dieser Gruppe. Er ist einer von rund 95000 Menschen, deren Nationalität ungeklärt ist. Was paradox klingt. Auf der Rückseite von Edwards Ausweisersatz stehen drei Buchstaben: RUS. Drei Buchstaben, die verhindern, dass er eine Staatsangehörigkeit haben kann. Wie konnte das passieren?

Entwurzelte Eltern, ein kollabierter Staat und ungeklärte Zuständigkeiten

Während des Chaos infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion flohen seine Eltern nach Deutschland. Der Vater stammt aus Armenien. Seine abgelaufenen sowjetischen Papiere waren unwirksam geworden und der Vater somit staatenlos. Die Mutter besaß einen russischen Pass. Das Asylverfahren seiner Eltern lief noch, als Edward zur Welt kam. Das waren die Gründe, warum die Behörden ihn nur als geduldeten Flüchtling aus Russland anerkannten.

Edward war noch nie in Russland, erzählt er im Videocall. Er spreche auch kein Russisch. Theoretisch könnte er sich einbürgern lassen, doch in seiner jetzigen Situation ist das kaum möglich. Denn dafür müsste er seinen russischen Pass ablegen. Aber den hat er nie besessen. Und das nachzuweisen, sei kompliziert, sagt er. In den russischen Personenregistern tauche er nicht auf. „Wenn ich zum russischen Generalkonsulat gehe, schicken die mich zur Ausländerbehörde, die mir auch nicht weiterhelfen kann.“ Und so landet Edward in einem bürokratischen Wirrwarr, in dem sich niemand für ihn zuständig fühlt.

Vor mehr als 60 Jahren haben die Vereinten Nationen zwei Übereinkommen beschlossen. Erstens sollen Staatenlosen die gleichen Rechte wie Menschen mit ausländischem Pass garantiert werden. Zweitens wurde das Ziel ausgerufen, Staatenlosigkeit zu vermeiden. Auch Deutschland hat sich dazu verpflichtet. Doch schon länger steigt bei uns die Zahl der Staatenlosen rasant an. Seit 2014 hat sie sich mehr als verdoppelt. Warum das so ist, wissen die Behörden nicht. Auf Anfrage der Linken schreibt die Bundesregierung, dass ihr „keine belastbaren Erkenntnisse“ vorliegen.

So entsteht Staatenlosigkeit

Dabei ist bekannt, wie Staatenlosigkeit entsteht. Weil Staaten ethnische oder religiöse Minderheiten nicht als Bürger anerkennen – wie in Myanmar. Weil Staaten zusammenbrechen – wie die Sowjetunion. Ja, auch weil Menschen ihre Dokumente vernichten, um nicht abgeschoben zu werden. Und weil Kinder mit Eltern ungeklärter Identität in die Staatenlosigkeit hineingeboren werden.

Im Alltag wird Edward Grigorjan eher selten mit seinem Schicksal konfrontiert. „An Bundestagswahlen darf ich nicht teilnehmen“, sagt er. Natürlich kassiere er fragende Blicke, wenn er seinen Ausweis vorzeigen muss. Daran habe er sich gewöhnt. Ein Konto zu eröffnen, nehme mehr Zeit in Anspruch, weil die Banken länger brauchten, um seine Personalien zu checken. Aber wie oft braucht man ein neues Konto?

Er berichtet von einem Schlüsselerlebnis, wie er es nennt. 2019 wollte er mit einer Freundin nach Portugal fliegen. Fast hätten sie den Flug verpasst. „Weder die Leute am Check-in-Schalter noch die Bundespolizei haben meinen Ausweis anerkannt.“ Am Ende hätten Mitarbeiter am Firmensitz der Airline grünes Licht gegeben. Seitdem sei er nicht mehr geflogen. „Das ist mir zu stressig.“ Wenn er verreise, dann nur mit dem Auto. Länder außerhalb der Europäischen Union sind für ihn aber ohnehin tabu. „Ich darf dort nicht sein, obwohl ich nichts getan habe“, sagt er.

Was belastet ihn am meisten an seiner Situation? „Dass mir die Möglichkeit genommen wird, selbst zu entscheiden, wo ich mein Leben verbringen möchte“, sagt Edward. Er ringt um Worte. Alle Hürden, kleine oder größere, seien verkraftbar. „Aber die Einschränkung, in Deutschland bleiben zu müssen, tut wahnsinnig weh.“

Ich bin zwar in Deutschland geboren und mit der Kultur groß geworden. Aber seit 25 Jahren werde ich von der Gesellschaft nicht akzeptiert.
Edward Grigorjan, Staatenloser

Groß waren seine Hoffnungen, dass sich durch die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts etwas ändern würde. In Zukunft können Menschen nach fünf statt acht Jahren eingebürgert werden. Auch den Weg zur doppelten Staatsbürgerschaft hat die Bundesregierung vereinfacht. Für Menschen ohne Staatsangehörigkeit verbessert sich jedoch nichts. Dabei leben in der Bundesrepublik so viele Staatenlose, wie Wolfsburg Einwohner hat, praktisch aber sind sie unsichtbar. Mitten in der Gesellschaft und doch am Rand.

Seit 2021 gibt es einen Verein namens Statefree. Die einzige Organisation, die sich für Staatenlose einsetzt. Sie kämpft für bessere Möglichkeiten zur Einbürgerung. Edward Grigorjan lobt deren Arbeit. Er fragt aber auch, wie es sein kann, dass ein Verein für Menschen wie ihn die einzige Anlaufstelle ist. Alles, was er selbst über Staatenlosigkeit weiß, hat er von Statefree erfahren oder sich zusammengegoogelt.

Staatenlosigkeit: Keine einheitlichen Regeln

Über die rechtliche Situation sei allgemein wenig bekannt, bemängelt auch Hans Vorländer, Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration. „Es fehlt ein bundesweit einheitliches Regelverfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit“, sagt der Politologe. „Ein solches gesetzlich verankertes Verfahren ist von Bedeutung, um die Verwaltungspraxis effizienter zu gestalten.“ Zudem seien die vorhandenen Strukturen nicht auf staatenlose Menschen ausgelegt.

Vorländer hält es für „problematisch“, dass Kinder in Deutschland als Staatenlose zur Welt kommen. In bestimmten Fällen solle das Geburtsortprinzip gelten: Wer hier geboren wird, erhält automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft, unabhängig von der Nationalität der Eltern. Dass Staatenlose im reformierten Staatsbürgerschaftsrecht nicht berücksichtigt werden, bezeichnet er als „verpasste Chance“.

Edward Grigorjan versucht weiter, eine Lösung für seine ungeklärte Staatsangehörigkeit zu finden. Vielleicht hat er ja Glück. So wie sein Vater. Der wurde 2014 eingebürgert, erzählt Edward. Er hat seit seinem 19. Lebensjahr immerhin einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Sollte er doch noch den deutschen Pass erhalten, will er auswandern. Er träumt von Spanien. „Ich bin zwar in Deutschland geboren und mit der Kultur groß geworden“, sagt Edward. „Aber seit 25 Jahren werde ich von der Gesellschaft nicht akzeptiert.“ Kurzes Schweigen. Seine Heimat, sagt er, müsse er noch finden.