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Interview

Sozialverband-Chefin Engelmeier
„Debatte ums Bürgergeld ist falsch und polemisch“

Lesezeit 4 Minuten
Die Obfrau Michaela Engelmeier (SPD) und der Obmann Eberhard Gienger (CDU, l-r), des Sportausschusses des Deutschen Bundestages warten am 04.11.2015 auf den Beginn der 38. Sitzung des Sportausschusses im Paul-Löbe-Haus in Berlin.

Übt harsche Kritik an der Bundesregierung: Michaela Engelmeier.

Sozialverband-Chefin Engelmeier wirft der Ampel bei Kindergrundsicherung kollektives Versagen vor und fordert Pflege-Vollversicherung.

Michaela Engelmeier (63) hält nichts von der Debatte um „faule Bürgergeldempfänger“. Das sei Stimmungsmache auf dem Rücken derer, die ohnehin wenig haben. Was die Chefin des Sozialverbands Deutschland (SoVD) stattdessen vorschlägt, verrät sie im Gespräch mit Rena Lehmann.

Frau Engelmeier, der befürchtete Kahlschlag im Sozialen beim Bundeshaushalt 2025 ist ausgeblieben. Haben Sie als Sozialverband noch Grund zur Beschwerde?

Ich bin nach den wochenlangen Diskussionen erleichtert über die Einigung. Gerade im Sozialbereich kommt es nicht zu Kürzungen, das ist gut. Der soziale Frieden im Land steht auf der Kippe. Da ist es gut, wenn nicht am Sozialen gespart wird. Und es ist gut, wenn die Ampel nicht weiter streitet. Vielleicht haben die Wahlergebnisse der Europawahl bewirkt, dass die Ampel-Spitzen sich nun doch geeinigt haben.

Es gibt mehr Kindergeld, aber die Kindergrundsicherung kommt erst mal nicht. Hat die Familienministerin versagt?

Bei der Kindergrundsicherung haben alle Ampel-Parteien zusammen versagt. Sie war eine zentrale Vereinbarung im Koalitionsvertrag. Ich bin empört. Die Kindergrundsicherung, wie sie jetzt kommen soll, ist ja nur noch eine Verwaltungsreform. Jedes siebte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Und wir versagen dabei, daran etwas zu ändern. Das ist eine Niederlage dieser Ampel-Regierung.

Die 1,7 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger sollen in Arbeit gebracht werden. Wie optimistisch sind Sie, dass das klappt?

Ich finde viele Debatten, die wir gerade führen, nicht zielführend und polemisch. Es ist faktisch falsch, dass sich vermeintlich faule Bürgergeldempfänger in der sozialen Hängematte einrichten und im großen Stil nicht mit den Jobcentern kooperieren und zu keinem Termin erscheinen. Solche Scheindebatten mit Ressentiments hindern uns eher an dem Versuch, Menschen dauerhaft wieder in Arbeit zu bringen. Die Bundesregierung plant nun Verschärfungen für Bürgergeldempfänger. Wichtig ist, dass der Fokus weiterhin auf der Förderung der Betroffenen liegt. Insgesamt muss der Stigmatisierung von Menschen entgegengewirkt werden, die Bürgergeld beziehen.

Man kann es auch anders sehen: Während überall Personalnot herrscht, versorgt Deutschland Millionen Bürgergeldempfänger, die arbeiten könnten. Sehen Sie, dass das für wachsenden Frust in der Bevölkerung sorgt?

Ich halte die Debatte für die falsche. Insgesamt zählen wir 5,5 Millionen Bürgergeldempfänger. Davon sind rund vier Millionen erwerbsfähig. Von diesen geht über die Hälfte entweder arbeiten und muss aufstocken, nimmt an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teil, geht zur Schule, studiert, pflegt Angehörige, erzieht Kinder oder kann aus anderen nachvollziehbaren Gründen nicht vollumfänglich arbeiten. Weniger als die Hälfte der erwerbsfähigen Empfänger ist arbeitslos.

Warum können sie nicht selbst ihren Unterhalt verdienen?

Von ihnen wird nur eine sehr kleine Minderheit sanktioniert. Der Anteil der „Totalverweigerer“ liegt unter einem Prozent. Wir bräuchten statt verschärfter Sanktionen vor allem Maßnahmen zur besseren Qualifizierung der Langzeitarbeitslosen und einen höheren Mindestlohn von 15,02 Euro. Das wäre ein armutsfester Lohn, mit dem die Menschen nicht noch ihr Gehalt mit Bürgergeld aufstocken müssten, weil es zum Leben nicht reicht.

Eine Studie der Krankenkassen belegt, dass die Eigenbeiträge für Menschen in Pflegeheimen erneut enorm angestiegen sind. Wie kann die Politik gegensteuern?

Bei der Pflege kommt ein sozialer Sprengstoff ungeahnten Ausmaßes auf uns zu. Viele Pflegebedürftige, die eine kleine Rente haben, müssen bis zu 3200 Euro durchschnittlich im Monat im Heim trotz Zuschüssen dazuzahlen. Das kann sich niemand mehr leisten, wenn durchschnittliche Renten von 1200 Euro die Regel sind. Die Politik fährt die Pflege sehenden Auges gegen die Wand.

Was schlagen Sie denn vor?

Wir fordern einen angemessenen Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen, die Refinanzierung der geleisteten Corona-Ausgaben aus Steuermitteln. Und die Länder müssen ihren Verpflichtungen nachkommen und die anfallenden Investitionskosten übernehmen. Wir brauchen eine Pflege-Vollversicherung, in die alle einzahlen müssen – auch Beamte und Selbständige. Sonst kollabiert das System. Aber im Haushalt 2025 ist dafür gar nichts vorgesehen. Wie Minister Lauterbach unter diesen Umständen noch eine Reform auf den Weg bringen will, ist mir schleierhaft.

Auch die Krankenhausreform stößt auf viel Kritik. Wo ist noch nachzubessern?

Die grundsätzliche Stoßrichtung der Krankenhausreform ist richtig. Gerade vor dem Hintergrund des drohenden flächendeckenden Krankenhaussterbens und des massiven Fachkräftemangels muss etwas passieren. Allen Bürgerinnen und Bürgern muss der Zugang zu einer flächendeckenden und wohnortnahen, aber vor allem qualitativ hochwertigen Krankenhausversorgung ermöglicht werden. Die Politik steht vor der Aufgabe, die finanzielle Schieflage der Krankenhauslandschaft zu beheben und gleichzeitig mehr Versorgungsqualität zu bieten.

Soviel zur Analyse der Lage. Aber wie solls denn gehen?

Die Maßnahmen gehen in die richtige Richtung, müssen aber gerecht finanziert werden. Derzeit ist vorgesehen, dass der 50 Milliarden Euro umfassende Reformfonds zu 50 Prozent aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert wird. Diese einseitige Belastung der gesetzlich Versicherten lehnen wir ab. Die Zweckentfremdung dieser Mittel muss gestoppt werden, zumal bereits steigende Sozialversicherungsbeiträge prognostiziert wurden. Stattdessen sollte die Reform aus Steuermitteln finanziert werden, da das Steuersystem Unterschiede in der Einkommensverteilung besser berücksichtigt und eine gerechtere Lastenverteilung ermöglicht. Nur so kann die Reform ihre Ziele erreichen und allen Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen.