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Rundschau-Debatte des TagesWerden die Straßen in NRW immer unsicherer?

Lesezeit 5 Minuten
Am Straßenrand steht ein Kreuz und Grablichter.

Ein Kreuz steht in Köln am Straßenrand an der Unfallstelle eines tödlichen Unfalls bei einem illegalen Autorennen. Die Zahl der illegalen Autorennen erreichte im vergangenen Jahr in NRW ein trauriges Rekordniveau.

Mehr Unfälle, mehr illegale Rennen und weiterhin viel zu viele Verkehrstote: Die neue Unfallstatistik für Nordrhen-Westfalen ist ernüchternd.

2023 starben zwar etwas weniger Menschen auf nordrhein-westfälischen Straßen als im Jahr zuvor. Doch trotz einiger positiver Ansätze kann von einer Trendwende, wie sie die Landesregierung anstrebt, keine Rede sein. Woran liegt es, dass trotz aller Bemühungen und Appelle der Straßenverkehr weiterhin so gefährlich bleibt?

Die Lage

Insgesamt gab es im Jahr 2023 rund 640.000 Verkehrsunfälle in NRW. Das ist eine Zunahme um 4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Polizei registrierte einen Rückgang von zwölf Prozent bei den Schwerverletzten auf zuletzt rund 10.000. 450 Menschen ließen im Straßenverkehr ihr Leben (Vorjahr: 452). Die niedrigste Zahl an Verkehrstoten in der Geschichte des Bundeslandes hatte es während der Corona-Pandemie 2021 mit 425 Toten gegeben. „Die Entwicklung ist alles andere als eine Trendwende“, sagte die Leiterin des Verkehrsreferates im Innenministerium, Maria del Carmen Fernandez Mendez, am Montag bei der Vorstellung der Verkehrsunfallstatistik für 2023. Von der „Vision Zero“, also vom Fernziel, die Zahl der Verkehrstoten auf null zu senken, sei man weit entfernt. Auch das selbst gesteckte Ziel in NRW, die Zahl der Verkehrstoten bis 2030 um 30 Prozent zu verringern, sei in Gefahr.

Cannabis-Legalisierung

Mit Blick auf die Verkehrsunfälle kritisierte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) die Cannabis-Legalisierungspläne des Bundes erneut scharf: „Ich bin kein Prophet. Aber die Legalisierung wird zu mehr Unfalltoten führen“, sagte Reul. „Die Straße darf kein Coffee-Shop werden, wo man seinen Rausch auslebt.“ Die Zahl der Verunglückten unter dem Einfluss von Drogen stieg zuletzt in NRW von 951 auf 1170. Im Vergleich zu 2020 und 2021 hat sich diese Zahl fast verdoppelt. Im Zusammenhang mit Drogen starben 2023 zehn Verkehrsteilnehmer, im Vorjahr fünf. Reul warf dem Bund vor, mehr Verkehrstote durch Drogenkonsum in Kauf zu nehmen: „Das scheint in der Berliner Politik keinen zu interessieren.“

Illegale Rennen

Im letzten Jahr registrierte die Polizei 2144 verbotene Kfz-Rennen in NRW – so viele wie noch nie. 526 davon endeten mit einem Unfall. Das ist laut dem Innenministerium die höchste Zahl seit der Einführung des Straftatbestands. Seitdem die verbotenen Rennen erfasst würden, steige die Zahl von Jahr zu Jahr, obwohl es Präventionsarbeit in Schulen und härtere Strafen für Raser gebe. Im vergangenen Jahr wurden drei Menschen in NRW bei illegalen Rennen getötet. „Die harten Strafen haben sich leider nicht auf das Verhalten ausgewirkt“, resümiert Fernandez Mendez. Reul versprach, den Kontrolldruck auf Raser hochzuhalten. Fahrzeug-Daten würden ausgelesen, Führerscheine und Autos nach illegalen Rennen eingezogen.

Fußgänger leben gefährlich

101 der 450 im Straßenverkehr Getöteten waren Fußgänger (Vorjahr: 65), gut jedes zweite dieser Todesopfer war im Seniorenalter. In etwa der Hälfte dieser Todesfälle hätten die Opfer den Unfall selbst verursacht, sagte Reul. Zum Beispiel, weil sie bei Rot über die Ampel gegangen oder angetrunken gewesen seien. Gut sichtbare Bekleidung könne Leben retten, mahnte der Minister. In Ländern, in denen bei Dunkelheit Reflektoren getragen werden müssten, sei die Zahl der Unfälle mit Fußgängern stark gesunken. Reul möchte aber keine Pflicht zum Tragen solcher Reflektoren einführen.

Problem E-Scooter

E-Scooter gehörten weiter zu den „Sorgenkindern im Straßenverkehr“, so Reul. Zwischen 2021 und 2023 hätten sich diese Unfälle mehr als verdoppelt auf zuletzt 2115. Vier E-Scooter-Fahrer starben im vergangenen Jahr in NRW. Diese Roller seien keine Spielgeräte, sagte der Minister. Wer sie alkoholisiert fahre, riskiere den Führerschein.

Weniger Unfälle mit Radfahrern

Im vergangenen Jahr starben in NRW 36 Radfahrer bei Unfällen – 16 weniger als 2022. Die Zahl der tödlichen Unfälle bei Pedelec-Fahrern sank um 18 Prozent auf 40. Reul nannte aber einen „Wermutstropfen“: Unter den getöteten Radfahrern seien besonders viele Ältere. Radunfälle seien überwiegend „selbst verschuldet“ gewesen, bei Pedelecs sei oft ein zu hohes Tempo die Unfallursache. Reul appellierte an Elektro-Radfahrer, Trainingsangebote zu nutzen: „Riskieren Sie nicht, sich den wohlverdienten Lebensabend durch einen Unfall zu zerstören.“

Motorradunfälle

Bei den Motorradunfällen mit Verletzten sinken die Zahlen im vierten Jahr in Folge. 2019 waren es 3659, im Jahr 2023 wurden nur 2821 aufgenommen. 57 Menschen sind 2023 bei einem Motorrad-Unfall ums Leben gekommen, im Jahr davor waren es 62.

Unfallflucht

„Unfallflucht ist keine Kleinigkeit, sondern eine Straftat“, betonte Reul. In Fällen von Unfallflucht kamen im Jahr 2023 insgesamt 15 Menschen ums Leben. 13 dieser Todesfälle habe die Polizei aufklären können. Die Tatorte würden akribisch nach Spuren abgesucht.

Betroffenheit

Erstmals zeigte die NRW-Regierung vor der Statistik Videos von Bürgern, die bei Unfällen einen geliebten Menschen verloren haben. „An ihrem 14. Geburtstag musste ich meine Tochter beerdigen“, sagte eine Mutter. „Der Täter bekam drei Jahre und zehn Monate Haft. Ich habe lebenslänglich“, berichtete eine Frau, deren 18-jährige Tochter von einem Raser getötet wurde. „Jeder Verkehrsunfall ist vermeidbar“, betonte Reul. Doch selbst die fortschrittlichsten Assistenzsysteme könnten nicht verhindern, dass Menschen auf den Straßen getötet und schwer verletzt würden. „Wenn die Vernunft auf der Strecke bleibt, ist der Tod Beifahrer.“


Wissing: Keine Gesundheitstests für betagte Autofahrer

In der EU wird seit langem darüber diskutiert, ob hochbetagte Autofahrer regelmäßig zum Seh- und Reaktionstest müssen. In Italien gibt es seit vielen Jahren obligatorische Gesundheitschecks für Senioren: Ab 80 müssen sie alle zwei Jahre zum Arzt. In Deutschland sprach sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unlängst für solche Tests aus, nachdem ein 83 Jahre alter Autofahrer in Berlin eine Mutter mit ihrem Kind bei einem Verkehrsunfall durch zu hohe Geschwindigkeit getötet hatte.

Ganz anders sieht es Verkehrsminister Volker Wissing von der FDP. Im Gespräch mit unserer Redaktion lehnte er solche Gesundheitstests ab – auch wenn er „konsequent die Vision Zero“ verfolge. „Haben wir signifikant höhere Unfallzahlen bei hochbetagten Autofahrern? Nein, haben wir nicht. Deswegen können wir hier keine pauschalen Zwangsuntersuchungen einführen und brauchen sie auch nicht.“ Daran ändere auch der tödliche Unfall in Berlin nichts.

Der Verkehrsminister setzt stattdessen auf die Eigenverantwortung: „Die meisten verantwortungsbewussten Menschen schränken mit zunehmendem Alter ihren Bewegungsradius verantwortungsvoll selbst ein. Wir sollten nicht alles per Gesetz regeln“, so Wissing. Ohne Einigung zwischen ihm und Lauterbach wird es absehbar keine verpflichtenden Gesundheitschecks in Deutschland geben. (joko)