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Interview

Rundschau-Debatte des Tages
Wie gerecht ist Deutschlands Flüchtlingspolitik?

Lesezeit 6 Minuten
Eine Bezahlkarte wird bei einer Pressekonferenz gezeigt.

Über Details bei der Bezahlkarte für Asylbewerber wird noch gestritten

André Berghegger ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes und somit oberster Interessenvertreter der Kommunen in Deutschland. Im Interview bezieht er Stellung zu Migrationsfragen.

Herr Berghegger, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind etwa 1,1 Millionen Ukrainer nach Deutschland geflüchtet. Nach zwei Jahren ist es Zeit für eine Bilanz: Ist die Aufnahme der Menschen gelungen?

Wir versuchen flächendeckend alles, was möglich ist. Die Hilfsbereitschaft ist nach wie vor sehr, sehr groß. Aber Deutschland steht bekanntlich vor der besonderen Herausforderung, dass die Menschen, die in den Jahren 2015 und 2016 im Zuge der Flüchtlingskrise ins Land gekommen sind, teils nach wie vor in Flüchtlingsunterkünften vor Ort wohnen, Sprachkurse besuchen und natürlich auch Kräfte vor Ort binden. Die Situation mit den aus der Ukraine geflüchteten Menschen kommt obendrauf. Das ist insgesamt eine riesige Herausforderung.

Das bedeutet in der Praxis?

Die Belastungsgrenze ist in vielen, vielen Bereichen deutlich überschritten. Das gilt sowohl für die Kommunen selbst als auch für die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer. Wir beobachten, dass den Helfern allmählich die Kraft ausgeht. Da kann der Enthusiasmus noch so groß sein, irgendwann ist es einfach zu viel. Das gilt auch für die hauptamtlichen Helfer. Wir brauchen eine Atempause. Sonst wird man auch denjenigen, die zu uns kommen, nicht gerecht und setzt letztlich auch die Akzeptanz der Bevölkerung aufs Spiel.

Die Bezahlkarte ist Teil der Lösung, wie Deutschland Migration besser steuern, ordnen und begrenzen kann.
André Berghegger

Sind die Kommunen noch in der Lage, Flüchtlinge angemessen unterzubringen?

Es wird immer schwieriger. Wir haben faktisch gar nicht mehr die Räumlichkeiten, um unseren Ansprüchen gerecht zu werden: Idealerweise bringen wir die Menschen nicht in Gemeinschaftsunterkünften unter. Aber der Wohnraum vor Ort wird immer knapper. Da kommen die Kommunen oftmals nicht drumherum, Hotels oder sogar Turnhallen zu Unterkünften umzufunktionieren. Das gefährdet die Akzeptanz, wenn Sportvereine und Kinder die Turnhalle manchmal über Monate nicht mehr nutzen können. Für die Akzeptanz vor Ort ist es wichtig, dass diejenigen, die zu uns kommen, auch ein Bleiberecht haben.

Tatsächlich werden – Stand jetzt – auch Menschen über Deutschland verteilt, die keine Bleibeperspektive haben. Wie wollen Sie das ändern?

Den Kommunen würde es ungemein helfen, wenn nur diejenigen verteilt werden, die auch wirklich eine Bleibeperspektive haben. Das setzt aber voraus, dass die Asylverfahren in der Erstaufnahme-Einrichtung der Bundesländer durchgeführt werden, gegebenenfalls gemeinsam von Ländern und Bund. Da brauchen wir ein schnelleres Verfahren. Das setzt auch Signale an diejenigen, die zu uns kommen wollen: Nur wer wirklich einen Grund hat zu bleiben, hat die Chance auf Kommunen verteilt zu werden. Wenn Städte und Gemeinden nur diese Menschen betreuen müssen, dann wird das einen richtigen Integrationsschub geben.

Schleuser machen im Zweifelsfall einen Bogen um die Kontrollstation. Deshalb muss man immer wachsam sein.
André Berghegger

Die Ampel in Berlin hat einiges auf den Weg gebracht, etwa das Rückführungsverbesserungsgesetz, mit dem Abschiebungen beschleunigt werden sollen. Wird das vor Ort helfen?

Da muss man aufpassen. Für das Thema Migration gibt es nicht die eine Lösung, sondern wir reden über viele Komponenten. Natürlich ist es wichtig, konsequenter abzuschieben. Aber schauen wir auf die Zahlen: In Deutschland leben etwa 50000 Menschen, die unmittelbar ausreisepflichtig sind. Im vergangenen Jahr wurden 16500 Migranten abgeschoben. Demgegenüber stehen allein 350000 neue Asylanträge im vergangenen Jahr. Das heißt: Der Zuzug nach Deutschland muss begrenzt werden.

Dafür wurden Grenzkontrollen an Deutschlands Grenzen eingeführt.

Die stationären Grenzkontrollen sind richtig und wichtig und haben die illegale Migration deutlich reduziert. Aber: Schleuser machen im Zweifelsfall einen Bogen um die Kontrollstation. Deshalb muss man immer wachsam sein und vielleicht weitere Grenzkontrollen an anderer Stelle in Erwägung ziehen.

Aktuell streitet sich die Ampel in Berlin um die Geldkarte für Asylbewerber. Die soll ja bundesweit eingeführt werden. Sinnvoll?

Die Bezahlkarte ist Teil der Lösung, wie Deutschland Migration besser steuern, ordnen und begrenzen kann. Aus kommunaler Sicht ist wichtig, dass die Bezahlkarte flächendeckend kompatibel ist: Die Karte muss überall in den Funktionen ähnlich sein, auch wenn Bayern und Mecklenburg-Vorpommern ein eigenes System einführen wollen. Wir sprechen uns außerdem dafür aus, dass die Karte künftig erweiterbar ist. Ich halte es für sinnvoll, wenn auf der Karte beispielsweise die Identität des Besitzers samt Aufenthaltsstatus hinterlegt ist und ausgelesen werden kann. Auch der Bildungsabschluss könnte gespeichert werden. Das würde in den Behörden vieles erleichtern!

Kritiker sagen ...

... dass die Karte stigmatisierend sei. Das Argument verstehe ich nicht. Es wird doch nicht auf der Karte draufstehen, dass es sich beim Besitzer um einen Flüchtling handelt. Wenn zudem sichergestellt ist, dass ein gewisser Teil der eingezahlten Summe am Geldautomaten abgehoben werden kann, ist das nicht stigmatisierend. Die Alternative ist doch, dass sich weiter am Auszahlungstag lange Schlangen bei den Ausländerbehörden bilden. Das wollen wir nicht mehr, da brauchen wir Entlastung.

Die Grünen haben Gesprächsbedarf angemeldet.

Die Ministerpräsidentenkonferenz hat sich vergangenes Jahr im Herbst für eine Bezahlkarte ausgesprochen, eine Arbeitsgruppe hat das Ganze weiter vorbereitet und festgehalten, dass im Zweifelsfall auch Gesetze angepasst werden müssen. An dem Punkt sind wir jetzt. Die Vereinbarung muss umgesetzt werden, die Karte muss dieses Jahr kommen. Im März müssen die Kriterien stehen, danach die Ausschreibung erfolgen und dann im Sommer bis Herbst die Karte flächendeckend ausgegeben werden. Es versteht doch in der Bevölkerung niemand mehr, wenn getroffene Vereinbarungen nicht eingehalten werden. Das ist kein gutes Zeichen für den Zustand der Politik.

Ist das Bargeld für Asylbewerber tatsächlich ein Pullfaktor?

Auch das ist ja ein Argument für die Einführung der Geldkarte. Ja, darüber lässt sich streiten. Für einige Migranten mag das stimmen, für andere nicht. In Teilen wird die Karte eine hemmende Wirkung bei der illegalen Migration haben. Ich möchte einen Schritt weitergehen: Es muss über die Höhe der Sozialleistungen in der Europäischen Union insgesamt nachgedacht werden. Wir brauchen hier ein harmonisiertes Sozialleistungsniveau.

Unser Vorschlag: Die Höhe der staatlichen Hilfen an den Kaufkraftindex der jeweiligen Länder anpassen. Das bedeutet dann: In Deutschland ist die Summe vielleicht höher als im Land A oder B. Aber in allen drei Ländern kann ich mir dafür dasselbe leisten. Das würde Sekundärmigration innerhalb Europas spürbar senken, weil Anreize wegfallen, beispielsweise bis nach Deutschland zu gelangen.

Ukrainer dürfen anders als Asylbewerber unmittelbar arbeiten. Die wenigsten Ukrainer machen es aber tatsächlich. Woran hapert es?

Ukrainer haben unmittelbar Anspruch auf Bürgergeld. Das wurde nach dem russischen Angriff auf die Ukraine so geregelt. Es ist allerdings auffällig, dass in Polen, Dänemark oder den Niederlanden mehr Kriegsflüchtlinge arbeiten als bei uns, hierzulande sind es derzeit gerade einmal um die 20 Prozent.

Ist das Bürgergeld zu hoch, wie manche vermuten?

Da gehe ich so pauschal nicht mit. Die Sozialleistungen in anderen europäischen Ländern sind teilweise ähnlich hoch. Aber dort wird nicht nur gefördert, sondern auch gefordert: Dort sind die Anreize höher, arbeiten zu gehen. Das heißt für Deutschland: Den Kriegsflüchtlingen sollten Arbeitsangebote unterbreitet werden. Wer dann aus nicht nachvollziehbaren Gründen diese Arbeit ablehnt, dem sollten dann auch die Sozialleistungen gekürzt werden.

Wer eine zumutbare Arbeit annehmen kann, muss sie auch annehmen. Wer das nicht macht, bekommt weniger Geld vom Staat. Zudem sind bislang häufig Sprach- und Integrationskurse der Arbeitsaufnahme vorgeschaltet. Das sollte parallel, in Absprache mit dem potenziellen Arbeitgeber, laufen können. Das wäre noch einmal deutlich mehr Anreiz, schnell in Deutschland zu arbeiten.