Das Massaker vom 7. Oktober hat den Nahen Osten in einen neuen Krieg gestürzt. Was sagen israelische Überlebende des Horror-Angriffs mit mehr als 1200 Toten? Eine Reportage von der Grenze zum Gazastreifen.
Reportage aus Israel„Jedes zweite Haus ist jetzt ein Denkmal für ein Opfer“
Der Gefechtslärm der israelischen Artillerie-Stellungen ist zwischen den Ruinen des Kibbuz Kfar Aza in Abständen von Minuten zu hören. Von hier aus feuert die Armee auf den Norden des Gazastreifens. Der Grenzzaun ist nur wenige Hundert Meter entfernt. Zum Schutz vor Scharfschützen der Hamas dürfe man sich diesem nicht nähern, sagt ein Soldat. Die gesamte Grenzregion zum Gazastreifen ist militärische Sperrzone.
Die niedergebrannten Häuser des Kibbuz zeugen von den Gräueltaten vom 7. Oktober. Ralph Lewinsohn hat das Massaker überlebt, im Unterschied zu seinen Nachbarn und vielen anderen. Er und seine Frau Barbara hatten einfach Glück, auch weil sein Hund Sixty in ihrem Versteck im Keller wie durch ein Wunder ruhig blieb, während die Hamas-Terroristen draußen mordeten, brandschatzten und vergewaltigten.
Der Horror begann gegen 6.30 Uhr am Morgen mit einem Raketenalarm. Ralph und Barbara Lewinsohn kennen das Sirenengeheul nur zu gut. „Das war nicht ungewöhnlich. Das gehört zum Alltag“, sagt der 72-Jährige, der vor mehr als 40 Jahren aus Namibia mit seiner in Südafrika geborenen Frau nach Israel eingewandert war. Oft gab es bis zu zehn Raketen am Tag. „Da wird das Gassigehen schon zu einem Wagnis“, sagt Lewinsohn. „Das sind Sachen, die man als normaler Mensch in Europa oder in den USA nicht versteht.“
Flucht in den Schutzraum
Am 7. Oktober flohen die beiden in den Schutzraum im Keller. Dann hörte Lewinsohn draußen Explosionen, Gewehrfeuer und Geschrei der Hamas-Kämpfer. Die Internetverbindung fiel aus. Es folgten Stunden in Todesangst und völliger Unwissenheit. Hund Sixty, der seinen Namen dem Umstand verdankt, dass Lewinsohn ihn zu seinem 60. Geburtstag geschenkt bekam, gab keinen Ton von sich, um niemanden zu verraten. „Zum Glück“, wie Lewinsohn stolz sagt, während er seinen Hund krault.
Stunden um Stunden vergingen. Immer wieder hörten sie Gefechtslärm, Schreie der Nachbarn, Gebrüll von Hamas-Kämpfern, Detonationen in ihrem Versteck. Erst 24 Stunden später konnten Soldaten der israelischen Armee zu ihnen durchdringen. Im Schutz der Soldaten flohen sie unter Beschuss zwei Kilometer zu Fuß aus dem Kibbuz zu einem Schutzbunker der Armee. „Es lagen überall Leichen herum, verbrannte Autos, wohin wir blickten“, erinnert sich Lewinsohn. „Das ganze Ausmaß des schwarzen Samstags kannten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht.“
Im Haus gegenüber seien zwei Nachbarn ermordet worden, im nächsten Haus ebenso zwei, berichtet Lewinsohn, der seit vielen Jahren als Reiseführer arbeitet. Insgesamt gab es allein in dem Kibbuz 61 Tote, 18 Entführungen und 20 Verletzte.
Lewinsohn und seine Frau wurden wie Zehntausende andere Israelis evakuiert, die an der Grenze zum Gazastreifen oder in der Nähe der Grenze zum Libanon leben. Sie wohnen in Hotels wie etwa im Grand Beach Hotel in Tel Aviv. Da die Touristen ausbleiben, sind viele Zimmer frei. So kommt es, dass auf den Fluren auch die Luftballons von einem Kindergeburtstag zu sehen sind.
Wer will wieder zurückkehren?
In der israelischen Metropole leben sie in diesem Krieg weitgehend in Sicherheit. Nur ab und zu kommt es zu einem Luftalarm. Auch die Lewinsohns wohnten erst in einem Hotel, jetzt sind sie bei Freunden untergekommen.
Er hoffe, bald wieder nach Kfar Aza zurückkehren zu können, sagt der 72-Jährige. Dort, in der Kibbuz-Gemeinschaft, die eher sozialistische Ideale eines Kollektivs verfolgt, hat er den Großteil seines Lebens verbracht. Dort habe er seine drei Kinder groß gezogen, seine Werkstatt und alles, was er zum Leben brauche.
Der Wiederaufbau werde lange dauern, sagt er. 30 bis 40 Häuser seien zerstört worden. „Aber wer von den Überlebenden wird wirklich zurückkehren?“ Seine Frau wolle nicht mehr zurück. „Die Erinnerung an die Gräuel ist noch zu frisch. Jedes zweite Haus ist jetzt ein Denkmal für ein Opfer.“
Ressentiments gegen Palästinenser verspürt er keine. „Die Hamas ist nicht die Palästinenser“, sagt er. Dann erzählt er, wie er vor 20 Jahren noch in Gaza am Strand baden gegangen war, bevor die Hamas die Macht übernahm. Von den Hunderttausenden Palästinensern, die täglich nach Israel zur Arbeit kamen, bis die Hamas Israel mit Terroranschlägen überzog, von seiner Haushaltshilfe, die in Gaza wohnt und nach dem 7. Oktober fragte, wie es ihm und seiner Familie nach dem Hamas-Massaker gehe.
„Wir haben die Palästinenser nicht eingesperrt, sondern ausgesperrt“, sagt er. Die sogenannte israelische Mauer sei in Wirklichkeit auch zu 94 Prozent ein elektronischer Trennungszaun, nur zu 6 Prozent eine Mauer. „Am Tag des 7. Oktobers hatten ja mehr als 10000 Palästinenser noch ein Arbeitsvisum.“
Dann erzählt er, wie er ehrenamtlich schwerkranke Palästinenser nach Jerusalem ins Krankenhaus gefahren habe. „Natürlich ist das besonders bitter, dass palästinensische Hilfsarbeiter den Kibbuz ausspioniert und Informationen an die Hamas über Schutzräume und Sicherheit gegeben haben“, sagt Lewinsohn. „Früher hatten wir ein freundschaftliches Verhältnis.“
Was für ein Ausmaß der Hamas-Angriff hatte, lässt sich auch beim Anblick des Autofriedhofs einige Kilometer von dem Kibbuz entfernt erahnen. Tausende Autos stehen dort, viele mit Einschusslöchern und zerborstenen Scheiben. Viele Wracks sind total ausgebrannt. Sie wurden von den Anschlagsorten hierher gebracht, unter anderem auch vom Musikfestival Supernova, bei dem allein mehr als 360 junge Frauen und Männer regelrecht massakriert und unzählige Besucherinnen vergewaltigt worden waren. Auf einem anderen Schrotthaufen sind die Pick-ups und die Motorräder zu sehen, die die Terroristen benutzt hatten.
Einer, der den 7. Oktober überlebt hat, ist der Tischler Simha Grainman. Ehrenamtlich arbeitet er für „Zaka“. Das ist eine 1989 gegründete Organisation, die nach Unfällen oder Selbstmordattentaten Leichenteile einsammelt.
„Wir sind eine Familie, wie Brüder“
An jenem Samstag wurde er zum Einsatz in Sderot gerufen. Da dauerten die Gefechte in der 30 000-Einwohner-Stadt an. Bei der Polizeistation kam es zu massiven Kämpfen, erzählt er. Das Militär gab ihm Schutz und führte ihn zu immer mehr Leichen auf dem Highway 34, die in und um die teilweise ausgebrannten Autos lagen. Am Ende transportierte er Dutzende Leichen in seinem Einsatzfahrzeug ab, die später nach Gruppen sortiert wurden: in Zivilisten, Soldaten, Polizisten und Terroristen. Einzelne Körperteile bis hin zu Zähnen wurden in Tüten verpackt, um sie später den Leichen zuordnen zu können. Bis heute sind noch nicht alle Opfer identifiziert, weil die Überreste zu schlimm zugerichtet sind.
Die Stadt Sderot ist weitgehend evakuiert. Sie grenzt unmittelbar an den Gazastreifen. Von einem Hügel der Stadt aus hat man einen Blick über das palästinensische Gebiet, in dem bis zum 7. Oktober zwei Millionen Menschen lebten. Israelische Geschütze sind zu hören. Von hier aus berichten internationale Fernsehsender über den Gaza-Krieg.
Am Himmel tauchen immer wieder Hubschrauber und Kampfjets auf. Detonationen schallen herüber. Aber vor allem: Es steigen gigantische Rauchwolken über dem Häusermeer auf, das zunehmend von Ruinen gezeichnet ist. Gaza liegt unter schwerem Beschuss. Die Feuerpause zur Freilassung israelischer Geiseln dauerte nur wenige Tage.
Die Tankstelle von Sderot am Highway 34 ist zum Treffpunkt für Soldaten geworden, die hier die Einsatzfahrzeuge volltanken, Kaffee holen oder Snacks einkaufen. Im Schatten sitzt unweit eines israelischen Armeejeeps Ahmad Abu Abed (65). Er sei Beduine und Moslem, erzählt Abed, und besuche seinen jüdischen Freund Uri Kohen. „Wir sind Freunde, wie eine Familie“, sagt Abed. Auch der Dritte im Bunde, Amin Alamrani, ist Moslem. Aus seiner Sicht brauche es eine Zweistaatenlösung, um diesen Konflikt zu lösen, sagt Abed. Andernfalls befürchtet er weitere Kriege. Mehr wolle er nicht sagen, meint er. „Aber wir sind eine Familie, wie Brüder“, wiederholt der Beduine mit Nachdruck.