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Reinhard Mey über die Fragen der Zeit„Wir wissen heute so viel über den Klimawandel und tun doch nichts“

Lesezeit 5 Minuten
Seit den 60er-Jahren Liedermacher mit Botschaft: Reinhard Mey.

Seit den 60er-Jahren Liedermacher mit Botschaft: Reinhard Mey.

Liedermacher Reinhard Mey über seine Balladen, über die deutsche Einheit, den Klimawandel und über die Frage: Was bleibt?

Der Liedermacher Reinhard Mey hat mit „Nach Haus“ gerade sein aktuelles Album veröffentlicht. Wir haben mit ihm gesprochen.

Herr Mey, Ihr aktuelles Album trägt den Titel „Nach Haus“. Das klingt nach Heimkehr und Sehnsucht nach Heimat. Worin liegt für Sie die Heimat – in einer Stadt, in Menschen oder Erinnerungen?

„Heimat ist immer, wo wir Freunde finden“, sang ich einmal in meinem Lied, das von meinem Dorf am Ende der Welt erzählt, und so empfinde ich es noch heute. Natürlich liegt sie auch immer in den Wegen meiner Kindheit, meiner Jugend, meines Alters und den Erinnerungen am Wegesrand. Vor allem aber finde ich sie in den Menschen, die mir begegnen, in meiner Familie, bei meinen Freundinnen und Freunden.

In Ihrem Lied „Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke von Dreilinden“ schauen Sie in den Rückspiegel der deutsch-deutschen Zeitgeschichte. Was ist die deutsche Einheit für Sie: Geglückt oder unvollendet?

Etwas Gutes ist nie ganz zu Ende, es kann immer noch besser werden, und da ist noch manch Vorurteil zu überwinden und mancher Graben zuzuschütten, aber in meinem privaten Leben ist die deutsche Einheit geglückt. Ich lebe heute, wie ich es mir sehnsuchtsvoll im zerrissenen Land immer gewünscht habe, in einem „Berlin von Freiheit umgeben“, und um meine Freude vollkommen zu machen, sind wir durch unsere Kinder und Enkelkinder zu einer gesamtdeutschen Familie geworden.

In Ihrem Lied „Questo tavolo non si vende“ besingen Sie einen alten Tisch aus Italien, an dem sich die Familie versammelt. Wünschen Sie manchmal auch der ganzen Gesellschaft einen solchen (imaginären) Tisch, an dem sie sich sammeln und versammeln kann?

Keine schlechte Idee. Fabelhaft, man kommt zusammen, begegnet sich mit Respekt, jede und jeder kann offen und frei die eigene Meinung sagen, ohne dass dazwischengeschrien wird, es gibt keine Ausgrenzung, keinen Hass, keine Häme, es wird leidenschaftlich diskutiert und nach gemeinsamen Lösungen gesucht. Danach gibt es eine wohlschmeckende Brotzeit und ein kühles Glas Wasser und für die, die das vorziehen, ein gutes Glas Wein.

In Ihrem neuen Album schauen Sie weit in die eigene Familiengeschichte zurück. Das Lied „Verschollen“ von einem Onkel, der im Zweiten Weltkrieg in Russland fiel, hört sich wie der Kommentar zu aktuellen Kriegen an. Was sagen Sie zum Umgang mit dem Krieg in der Ukraine?

Mir sind die Ängste und Schrecken des Krieges sehr bewusst, ich bin im Krieg geboren und habe sie selbst erlebt, und erinnere mich gut, auch wenn ich ein kleines Kind war. So elementare Erlebnisse wie Bombeneinschläge, Hunger, Kälte, das Spüren der Verzweiflung und die Ohnmacht derer, die uns schützen und trösten sollten, brennen sich tief in die Seele ein, noch bevor unser Erinnerungsvermögen ausgeprägt ist. Ich sehe die Ruinen, die ausgebrannte Stadt, durch die meine Mutter mit mir hastete, die Treppe hinunter in den Luftschutzkeller. Ich sehe die Verzweifelten, die Versehrten, die Verstümmelten, die zerbrochenen Heimkehrer. Ich sehe die Bilder, die Zeitungen und Fernsehen in mein Haus tragen, und diese Erinnerungen leben wieder auf, und ich brauche nicht viel Fantasie, um mich in die Not der Menschen hineinzuversetzen. Die Bilder zerreißen mir das Herz.

Und wie sehen Sie den Krieg in Gaza?

Es ist eine wahrhaftige Tragödie. Auf der einen Seite das unendliche Leid, das mit dem grausamen Überfall auf die Kibuzim und das Musikfest über die Menschen hereingebrochen ist, die Qualen und die Todesangst der israelischen Geiseln und ihrer verzweifelten Angehörigen, auf der anderen Seite das Elend der Zivilbevölkerung, die Not der Frauen und vor allem der Kinder in Gaza.

„Es gibt keine Maikäfer mehr“: In Ihrem Lied von 1974 besingen Sie das Verschwinden der Käfer. Jetzt werfen Sie mit „Lagebericht“ den Blick in eine Zeit der Umweltkatastrophen voraus. Haben Sie damals vergeblich gewarnt?

Für viele nicht vergeblich, aber vielleicht für alle nicht laut genug, darum nochmal: Wir wissen heute so viel über den Klimawandel und die Gefahren, wir erleben Starkregen, Sturzfluten, Überschwemmungen, brechende Dämme, und zugleich immer neue Hitzerekorde, Dürre und unbeherrschbare Brände, aber anstatt etwas zu ändern, erstarren wir und tun nichts und hoffen, dass die Folgen am Ende doch nicht so schlimm werden – doch, sie werden!

Heute spricht alle Welt vom Singer-Song-Writer. Sie sind ein Liedermacher. Welche Qualitäten machen für Sie den Unterschied aus?

Authentische Geschichten, Erzählungen, die unmittelbar etwas mit dem, der die Lieder macht, zu tun haben, die über ihn, seine Umwelt, sein Leben, seine Sicht auf die Dinge, berichten. Text, Musik, musikalische Begleitung bilden eine Einheit. Und diese Einheit ist untrennbar mit der Person des Urhebers verbunden.

In früheren Jahrzehnten waren Liedermacher eine wichtige Instanz der Kritik an Zeit und Gesellschaft. Sie sind das geblieben – als einziger Ihrer Zunft?

Nein, mit mir zusammen begann in den 1960er-Jahren mein lieber Freund und Weggefährte Hannes Wader. Hannes und ich waren Liedermacher. Es war unsere Zeit. Die Bezeichnung sagte genau das aus, was es war, wir machten Lieder, er seine, ich meine. Gleiche Geschichten und doch ganz anders erzählt, weil wir, weil unsere Kindheit und unser Leben und unser Blick auf die Dinge um uns herum so waren, wie nur er oder ich sie sahen. Unverwechselbar, es war etwas Authentisches. Wir gingen gemeinsam mit unseren Liedern Jahr für Jahr auf Tournee durch Deutschland, Österreich, die Schweiz. Es gibt uns noch beide, auch wenn sich Hannes schon etwas mehr als ich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, er ist ja auch ein halbes Jahr älter.

Sie wollten einmal wie Orpheus singen. Der sagenhafte Sänger betörte Götter und Menschen mit seinem Gesang, rührte Tiere, gar Steine. Hat Orpheus sie weiter inspiriert?

Gibt es ein anspruchsvolleres Ziel, eine größere Herausforderung, als mit einem Lied Dinge –zum Guten – zu bewegen? Ja, ich will auch heute noch wie Orpheus singen.