Auch in NRW muss man für viele Verwaltungsakte noch persönlich beim Amt erscheinen. Und was online geht, ist oft zu kompliziert. Landesministerin Ina Scharrenbach stellt nun eine Handy-App für Behördengänge in Aussicht – wenn nötig im Alleingang.
NRW-Ministerin im InterviewWann werden Behörden endlich digital, Frau Scharrenbach?
Die Digitalisierung kommt nicht richtig voran. Während skandinavische und baltische Länder ihre Verwaltungen schon weitgehend digitalisiert haben, scheitert hierzulande der Staat an seinen eigenen Zielen. Warum ist das so, und was unternimmt NRW dagegen? Das erklärt Digitalisierungsministerin Ina Scharrenbach im Gespräch mit Matthias Korfmann.
Frau Ministerin, längst nicht alle Behördengänge können online erledigt werden. Laut dem Online-Zugangsgesetz des Bundes sollten schon vor einem Jahr 575 Dienstleistungen online verfügbar sein. In Nordrhein-Westfalen sind es flächendeckend nur 180. Was tun Sie dagegen?
In der letzten Woche hat erstmals der Digitalbeirat NRW getagt. Dort sitzen Praktiker aus den Kommunen sowie Vertreter von Unternehmen und Hochschulen. In der ersten Sitzung haben wir überprüft, wo wir stehen. Es war Konsens, dass sich Deutschland mit den 575 Dienstleistungen übernommen hat.
Warum?
Hinter diesen 575 stecken unglaubliche 11000 einzelne Verwaltungsleistungen. Das läuft aus dem Ruder, und der Bürger hat kaum etwas davon. Es gibt zu viele Schnittstellen. Es gibt Beispiele, wo Verwaltungen Vorgänge ausdrucken, um digitale Anträge überhaupt weiterverarbeiten zu können. Teilweise werden zu viele Daten abgefordert, die nicht benötigt werden. Viele Beschäftigte in den Behörden merken, dass die Digitalisierung ihre Arbeit nicht erleichtert, sondern noch komplizierter macht. Die derzeit 180 flächendeckenden Angebote in NRW umfassen immerhin die wichtigsten Themen, zum Bespiel Anträge für Personalausweise, Kfz-Anmeldungen, Kindergeld.
NRW hat sich zwar inzwischen der BundID, also dem Nutzerkonto des Bundes angeschlossen, viele Städte aber noch nicht. Was hindert sie daran?
Es gibt immer noch keine Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern.
Der Föderalismus bremst also die Digitalisierung aus?
Das würde so ich nicht sagen. Aber es gibt zu viele Netzwerke, zu viele Arbeits- und Projektgruppen, in denen zu viel geredet und zu wenig entschieden wird. Das verhindert pragmatische Lösungen.
Das heißt, es ist keine Lösung in Sicht?
Es gäbe eine große Lösung. Der Hauptgrund dafür, dass Online-Dienste von den Bürgerinnen und Bürgern schlecht angenommen werden, ist, dass sie das in der Regel nicht mit dem Handy erledigen können. Es gibt jetzt zwar das Service-Portal des Bundes, BundID, und NRW hat sein Service-Portal auf die BundID umgestellt. Aber kompliziert ist es immer noch, online einen Pass oder eine Geburtsurkunde zu beantragen. Das Handy könnte der Gamechanger sein, der Durchbruch für den digitalen Gang zum Amt.
Warum gibt es noch keinen direkten Draht zwischen den Handys der Bürger und den Rathäusern?
Weil die Bundesregierung zum Jahresende aus Kostengründen die Entwicklung einer Handy-Lösung eingestellt hat. Nun soll es eine Überbrückung geben mit einer niedrigeren Sicherheitsstufe, aber das ist okay.
Warum ist das im föderal organisierten Österreich möglich und bei uns nicht? Dort läuft die digitale Verwaltung schon lange über ein „Portal Austria“, das die Menschen per Smartphone-App nutzen können und tatsächlich auch nutzen.
Das muss die Bundesregierung beantworten. Ich kann nur sagen: Wenn der Bund die Entwicklung einer Handy-App einstellt und die alternative Handy-Lösung nicht kommt, dann machen wir das in NRW selbst. Dann machen wir hier ein Pilotprojekt für Deutschland.
Ist das denn rechtssicher?
Leider noch nicht in allen Fällen. Per Gesetz ist in vielen Fällen in NRW noch der Schriftverkehr oder persönliches Erscheinen im Amt angeordnet. Wir prüfen jetzt, worauf man verzichten könnte. Und wir müssen ein E-Siegel, ein Behördensiegel, einführen, das bestätigt, dass ein online verschicktes Dokument echt ist. Bis es so weit ist, wollen wir in NRW digitale Wasserzeichen einführen, um Bescheide rechtssicher zu machen.
Heißt das, dass die Menschen in NRW spätestens zum Ende der Legislaturperiode 2027 die wichtigsten Behördengänge per Handy erledigen können?
Ja, wir machen das, wenn der Bund es nicht selbst macht.
Haben Sie Verständnis für Bürgerinnen und Bürger, die sich von der Digitalisierung überfordert fühlen?
Absolut. Ja, denn der digitale Fingerabdruck ersetzt nicht den persönlichen Handschlag. Daher wird und muss der heute für viele normale Behördengang auch noch jahrelang möglich sein, vor allem, wenn es um den Bezug von Sozialleistungen geht. Wir müssen leider feststellen, dass Deutschland bei der Digitalkompetenz im EU-Vergleich immer schlecht abschneidet. Im Grund müsste es mehr Schulungen geben, um sie mitzunehmen. Das Vertrauen gerade älterer Menschen in Digitalisierung ist zu klein. Die Angst, etwas falsch zu machen, dagegen groß. Die Jüngeren werden mit der Digitalisierung hingegen groß.
Studie: Digitalisierung hat Konjunktureinbruch abgefedert
Die wirtschaftlichen Schäden in Deutschland durch die Folgen der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 bis 2022 konnten durch die zunehmende Digitalisierung in signifikantem Umfang gemindert werden. Laut einer Studie des Vodafone Instituts und des Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos haben Online-Handel, Homeoffice und andere Digitalisierungsmaßnahmen zusammen in einem ähnlichen Umfang wie die Staatshilfen dazu beigetragen, einen Komplettabsturz der deutschen Wirtschaft zu verhindern.
Die Studie beruft sich auf Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, wonach die Wertschöpfung in Deutschland von 2020 bis 2022 ohne Corona um insgesamt 420 Milliarden Euro höher ausgefallen wäre. Das Vodafone Institut und Prognos haben wiederum berechnet, dass das Bruttoinlandsprodukt ohne die Digitalisierungseffekte in diesem Zeitraum um rund 130 Milliarden Euro geringer ausgefallen wäre.„Damit trug die Digitalisierung genauso stark zur Abmilderung der Corona-Folgen bei wie die Wirtschaftshilfen des Bundes“, hieß es. Die hätten ebenfalls bei insgesamt 130 Milliarden Euro gelegen.
Die Forscher haben auch die Entwicklungen in Branchen verglichen, die unterschiedlich stark digitalisiert sind. Allein in der Informations- und Kommunikationstechnologie habe die Digitalisierung in den beiden Jahren Umsatzeinbußen von 15 Milliarden Euro vermieden. Unternehmen im Verkehr oder im Baugewerbe seien dagegen darauf angewiesen, ihre Tätigkeit vor Ort durchzuführen. Sie hätten deshalb weniger von der Digitalisierung profitiert. (dpa)