Gehört die Republik Moldau in die EU? Die Entscheidung darüber steht noch aus, nun will die EU-Kommission ihre Bewertung vorlegen. Vor allem das russische Separatistengebiet Transnistrien birgt Probleme.
Ringen um EU-BeitrittMoldau – eine kleine Republik mit großer Angst
Olga hat den russischen Panzern einen lächelnden Mund unter das Kanonenrohr gestickt. Ein gehäkeltes Kriegsgerät fürs Kind zwischen den Puppen und Textiltieren, die sie an ihrem kleinen Stand zum Kauf anbietet. Die 60-Jährige mit den kurzen, weiß-blond gefärbten Haaren und dem Pailletten-T-Shirt reagiert verlegen, wenn Kunden sie auf die Plüsch-Panzer oder den handgearbeiteten Sowjet-Soldaten mit dem roten Stern auf der Mütze ansprechen, der in Uniform aus der Kuschel-Sammlung herausragt. Gut fürs Geschäft sei das, aber über Politik reden, nein, das will sie nicht. Nur der Krieg, ja, schlimme Sache. Dass der so nahe komme, das mache ihr doch Angst. In zwei Autostunden wäre Olga in der ukrainischen Hafenstadt Odessa.
Die Hobby-Häklerin bessert mit dem Verkauf der Nadelarbeiten ihre niedrige Rente auf, die sie aus Russland überwiesen bekommt – wie fast jeden Samstagmittag auf dem Markt im Zentrum Tiraspols, der selbst ernannten Hauptstadt des selbst ernannten Landes Transnistrien. Aus alten Lautsprechern knattert Jahrmarktsmusik, es herrscht Volksfeststimmung bei Sonnenschein auf dem Suworow-Platz. Doch während hier Familien durch den mit Blumen geschmückten Park flanieren, wehrt sich nur wenige Kilometer entfernt die Ukraine seit mehr als eineinhalb Jahren gegen die russische Invasion. Die Menschen in Transnistrien stehen irgendwo dazwischen.
Es ist das Land, das es eigentlich nicht gibt und das doch irgendwie existiert mit eigener Flagge, Hauptstadt, Hymne, Währung, Armee – und Grenze. Wer die passieren will, muss in einem der grauen Schalter darauf warten, von einem Uniformierten einen Stempel auf ein Stück Papier gedrückt zu bekommen. Den Pass darf er nicht stempeln, man verlässt keineswegs Moldau, bevor man nach Transnistrien einreist. Das Gebiet gehört völkerrechtlich zur Republik.
Die rund 375000 Bewohner betrachten sich trotzdem als unabhängig, obwohl das sonst kein Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen tut. Sie stehen unter dem Einfluss Russlands, inklusive Desinformationskampagnen aus Moskau im Fernsehen und Propaganda über die sozialen Medien. Man könnte auch sagen, dass Putin Transnistrien als eine Art Filiale fernab des Kremls hält, mit der er Moldau zu destabilisieren versucht. Das Separatistengebiet markiert einen der größten Stolpersteine für Moldaus Weg in die EU, jener Republik, die auf der Landkarte eingeklemmt zwischen Rumänien und der Ukraine in die Gemeinschaft drängt. Seit Juni 2022 ist der Staat Beitrittskandidat. Wie die Regierung in Kiew hofft auch jene in Chisinau auf den Startschuss der Aufnahmegespräche bis Ende dieses Jahres.
Das kleine Moldau rückt so im Windschatten der Ukraine ins Zentrum großer europäischer Fragen: Wie ernst ist es der EU mit ihrem Aufnahmeangebot? Und, kann so eine Erweiterung ernsthaft gelingen, solange Moskau nichts unversucht lässt, um die junge Demokratie zu destabilisieren?
In ihren Reden halten die EU-Spitzen die Tür für die Republik genauso weit offen wie für die Ukraine. Neben Worten investieren sie Geld, um das Land zu stützen, inzwischen sind es mehrere Hundert Millionen Euro. Eines wollen sie unbedingt verhindern – dass neben Weißrussland ein zweiter Staat unter Putins Fuchtel an der EU-Ostgrenze entsteht.
Ob das Ziel von Präsidentin Maia Sandu, das 2,6-Millionen-Einwohner-Land bis 2030 in die Union zu führen, eine realistische Chance hat, hängt unter anderem an der Bewertung der EU-Kommission, die an diesem Mittwoch erwartet wird. Wie viele Anforderungen erfüllt der ehemalige Sowjetstaat bereits, unter anderem was die Rechtsstaatlichkeit, Justizreformen und eine stärkere Korruptionsbekämpfung betrifft? Welche Seite in der zwischen proeuropäischen und prorussischen Kräften gespaltenen Republik gewinnt die Zerreißprobe?
Im Mai kamen etwa 80000 Menschen zu einer Kundgebung ins Zentrum der Hauptstadt und demonstrierten für einen Beitritt zur Europäischen Union. Jüngsten Umfragen zufolge wollen rund 60 Prozent der Bürger Mitglied der Gemeinschaft werden. Die Zustimmung zu Russland ist dagegen von fast 40 auf 30 Prozent gesunken. Einerseits.
Andererseits hängt Transnistrien wie ein Damoklesschwert über dem Traum der EU-Befürworter. Prorussische Separatisten beherrschen die abtrünnige Region, seit bei einem blutigen Bürgerkrieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fast 1000 Menschen starben. 1992 rief Transnistrien einen eigenen Staat aus. Eine sogenannte „Friedenstruppe“ ist seitdem in Transnistrien stationiert, ein Kontingent von mehr als 1500 Soldaten, die ein altes Waffendepot aus dem Zweiten Weltkrieg bewachen.
Bei den Männern handelt es sich zumeist um Einheimische mit russischen Pässen und geringer Ausbildung. Sie patrouillieren, unterhalten Kontrollpunkte wie unten am Fluss Dnister, aber bleiben auch auffällig im Hintergrund. „Keiner will Aufmerksamkeit erregen“, sagt Maksim, der sich als Fahrer vorstellt, aber selbst nach dem Abstellen des Autos die ausländischen Besucher nicht aus den Augen lässt. Maksim meint, im Kreis der Soldaten herrsche zu große Angst, im Zuge der nächsten Mobilisierung von Moskau an die Front in der Ukraine geschickt zu werden. Und er? Maksim grinst nur.
Auch wenn die Moldauer Regierung Transnistrien weiterhin als Sicherheitsrisiko betrachtet und rätselhafte Anschläge im Frühjahr vergangenen Jahres für Spannungen sorgten, hätten sich mit dem Angriffskrieg Russlands sowohl die Lage in dem Separatistengebiet als auch die Beziehung zwischen Chisinau und Tiraspol „fundamental verändert“, sagt Anastasia Pociumban von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Der interne Konflikt rückte überhaupt erst wieder in den Fokus der Bevölkerung auf beiden Seiten des Dnister. „Es gibt mittlerweile die Einsicht, dass der Status quo auf Dauer nicht funktionieren kann“, sagt die moldauische Politikwissenschaftlerin.
Fragile Lage zwischen Moldau und Transnistrien
Wer würde schon nach einem Ende des Kriegs akzeptieren, dass in Transnistrien russische Truppen direkt an der Grenze zur Ukraine stationiert sind? Aber wie auch immer eine friedliche Lösung zwischen Moldau und Transnistrien aussehen mag – „der Prozess der Re-Integration muss schrittweise und sensibel passieren, das braucht Zeit“, sagt Pociumban. Zu fragil sei die Situation, zu polarisiert das Klima.
Die Menschen in dem Separatistengebiet als Nostalgiker zu bezeichnen dürfte die Untertreibung des Jahrzehnts sein. Die Sehnsucht nach der untergegangenen Sowjetunion belegt schon die Fahne, auf der Hammer und Sichel prangen. Transnistrien gleicht einem Themenpark aus der UdSSR, wo sie den Rubel nutzen und internationale Kreditkarten nicht funktionieren; wo es keine Ladenketten wie H&M gibt, dafür Geschäfte, die H&A heißen. So ziemlich alles andere ist nach „Sheriff“ benannt, dem Unternehmen des Oligarchen Victor Gusan. Es kontrolliert de facto die Wirtschaft. Dementsprechend ziert der Name Sheriff das Stadion, die Supermärkte und Tankstellen, den Mobilfunk.
Skurril wird es, wenn Spaziergänger entlang der Strada 25 Octombrie, der Allee zu Ehren der Oktoberrevolution 1917, erst auf eine Büste des kommunistischen Revolutionärs Lenin stoßen und wenige Meter weiter auf ein Denkmal des bedeutendsten Lyrikers der Ukraine, Taras Schewtschenko, der heute mehr denn je für die Ukrainer als Identifikationsfigur gilt. Außer Konkurrenz steht zu guter Letzt noch Harry Potter, in Bronze gegossen, auf einem Sockel, inklusive Eule Hedwig. Wer auf welcher Seite steht, hängt vom Alter ab „Wir sind besessen von Harry Potter“, sagt die Transnistrierin Julia und lacht. Die 33-Jährige ist freiberufliche Texterin und studiert in Tiraspol Webdesign. Sie würde so was wie das Postergirl abgeben für die EU-Befürworter. Ihr russischer Pass ist abgelaufen, doch verlängern will sie ihn nicht. „Wozu?“ Statt auf Moskau setzt sie auf Moldau, auf Wandel und auf Frieden. „Ich wäre glücklich, wenn wir irgendwann EU-Mitglied wären“, sagt sie und meint mit „Wir“ die Moldauer. Mit ihren Eltern führt sie deshalb hitzige Diskussionen. „Die haben Angst vor Veränderungen und hängen dem Glauben nach, dass früher alles besser war.“ Julia lobt Tiraspol als „multikulturelle und multinationale Stadt“ und schickt die Gäste zum Beweis in den Supermarkt. Dort stammt die saure Sahne aus der Ukraine, der Joghurt aus Belarus, die Milch aus Moldau, die Mayonnaise aus Russland.
Tiraspol: Der undurchsichtige Ort
In Wahrheit ist Tiraspol ein undurchsichtiger Ort. Jede Opposition wurde zerschlagen, die meisten, die versucht haben, Veränderungen anzustoßen, sind vom Geheimdienst verhaftet worden. Der nennt sich wie zur Sowjetära KGB. Auf offiziellen Gebäuden weht die russische neben der transnistrischen Flagge. Derweil bröckeln nicht nur die Plattenbauten, auch die Wirtschaft strauchelt. Eine Geburtsklinik musste schließen, erzählt Julia, weil keine Ärzte mehr zu finden waren. Mediziner und Pfleger flüchten nach Moldau. Dort verdienen Krankenschwestern zwei- bis dreimal so viel wie im Streifen der Abtrünnigen.
Noch mag die Region an Russlands Geld- und Gastropf hängen. Doch Moldau arbeitet daran, Verflechtungen aufzulösen. Dabei hilft ein neues Freihandelsabkommen mit den Europäern. Seit Putins Truppen den Nachbarn überfallen haben, näherten sich zudem Transnistrien und Moldau wirtschaftlich an. Denn die Grenze zur Ukraine ist geschlossen, damit sind Lieferrouten gekappt für Nahrungsmittel, Medikamente oder Benzin. Nun wird viel über Moldau nach Transnistrien transportiert, gleichwohl exportieren die Separatisten ihre Güter über Chisinau etwa in die EU. Das gesamte Gas, das Moldau aus Russland bezieht, geht an Transnistrien. Im Gegenzug versorgt Tiraspol die Republik mit Strom. „Die Abhängigkeit Transnistriens von der Regierung in Chisinau war noch nie so groß wie jetzt“, sagt Politologin Pociumban. Könnte das auch einen Wandel einläuten?
Früher, da seien Ukrainer regelmäßig zu Besuch gekommen, die Transnistrier häufig ins Nachbarland gefahren, wo viele Freunde und Familie hätten, sagt Ljudmila. Die Seniorin verkauft in einem Kiosk in Tiraspol Zeitschriften. „Transnistrien ist nicht mehr so friedlich wie früher“, flüstert sie und lässt ihren Blick in Richtung Überwachungskamera wandern. Vorbehaltslos auf der russischen Seite stehen die Leute hier keineswegs. „Ich weiß nicht, wer in diesem Krieg recht hat“, sagt Ljudmila. „Aber die ganze Situation ist schrecklich.“