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Messerattacke von SouthportEin Besuch vor Ort – einen Monat nach den Ausschreitungen

Lesezeit 7 Minuten
04.08.2024, Großbritannien, Middlesbrough: Feuerwehrleute löschen ein brennendes Auto in der Parliament Road in Middlesbrough während einer Anti-Einwanderungsdemonstration.

04.08.2024, Großbritannien, Middlesbrough: Feuerwehrleute löschen ein brennendes Auto in der Parliament Road in Middlesbrough während einer Anti-Einwanderungsdemonstration.

Einen Monat sind die rechtsextremen Ausschreitungen nach der tödlichen Messerattacke in Southport her. Ein Besuch in der Küstenstadt Kingston upon Hull zeigt: Die Lage ist ruhig – doch die Stimmung weiter angespannt.

Die geplünderten Geschäfte sind repariert, die Brände gelöscht und das zerbrochene Glas zusammengekehrt. Wer in diesen Tagen die Küstenstadt Kingston upon Hull im Nordosten Englands besucht, würde nicht auf die Idee kommen, dass hier ein wütender Mob durch die Straßen gezogen ist. Hier, wo das Stadtzentrum mit seinem Hafen, der gepflegten Einkaufsstraße und den urigen Pubs geradezu idyllisch britisch wirkt. Auf den zweiten Blick sind dann aber einige Spuren der Unruhen von Anfang August zu sehen. Ein Schuhgeschäft, das an jenem Tag in Flammen aufging, ist mit hellem Holz verkleidet. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, schnell wieder eröffnen zu können“, ist auf einem angenagelten Schild zu lesen.

Southport: Krawalle von Rechtsextremen

Bewohner der Stadt erinnern sich noch gut an die Ereignisse vor wenigen Wochen. An den Beginn der Proteste auf dem Queen Victoria Square im Zentrum der Stadt, als rechtsradikal motivierte Protestler pöbelnd und betrunken auf Gegendemonstranten trafen, die sich gegen Rassismus aussprachen, als überwiegend Männer, aber auch einige Frauen in Richtung eines Hotels in der Nähe des Bahnhofs zogen, in dem Flüchtlinge untergebracht sind, als Geschäfte und Autos lichterloh brannten und schließlich dunkle Rauchschwaden über Hull aufstiegen.

03.08.2024, Großbritannien, Liverpool: Ein Mann wirft einen Ziegelstein während einer Demonstration nach den Messerangriffen

03.08.2024, Großbritannien, Liverpool: Ein Mann wirft einen Ziegelstein während einer Demonstration nach den Messerangriffen

Auslöser der Ausschreitungen war eine Messerattacke in der englischen Stadt Southport, bei der drei Kinder getötet wurden. Der mutmaßliche Täter war selbst erst 17 Jahre alt und ein in Großbritannien geborener Sohn von Einwanderern aus dem christlich geprägten Ruanda. Rechts motivierte Influencer verbreiteten jedoch gezielt Falschmeldungen. Sie behaupteten, er sei ein illegal eingereister muslimischer Flüchtling. Daraufhin eskalierte die Situation in Hull und weiteren Städten vor allem in Nordengland.

Raju Akter, Inhaber des Ladens „Total Fix Technology“, wirkt auch einen Monat nach den Unruhen noch beunruhigt. Auch sein Geschäft wurde angegriffen. „Das waren hauptsächlich Kinder und Jugendliche, 13-Jährige“, angestiftet von ein paar Älteren. Sein Shop liegt in der Spring Bank, einer migrantisch geprägten Straße im nördlichen Stadtzentrum von Hull, wo sich ein polnischer Supermarkt unter anderem an eine türkische Bäckerei reiht. Dort wurden neben Geschäften auch eine Moschee angegriffen. Er möchte keinesfalls pessimistisch wirken, betont er. Hull sei eine schöne Stadt. Doch die Stimmung vor Ort sei nun schon etwas anders als früher, sagt der 40-Jährige.

Radikale Gewalt und viel Angst

Zu welcher Gewalt die Rechten bereit sind, wurde in Hull unter anderem deutlich, nachdem die Stimmung an jenem Samstag im August zunächst aufgeheizt war und schließlich eskaliert war. Videos von dem Tag der Ausschreitungen zeigen, wie eine Gruppe von Männern versucht, einen Mann aus seinem Auto zu zerren. In Tonaufnahmen, die später vor Gericht abgespielt wurden, bezeichnen sie ihn als „Ausländer“. Einer ruft: „Mach die Tür auf oder ich bringe dich um.“ Sie wollten mit Metallstangen auf ihn einschlagen. Der Fahrer flüchtete.

Die Täter wurden Mitte August zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Es kam auch wegen des harten Durchgreifens der Justiz in England zu keinen weiteren Gewaltausbrüchen. Gläubige einer Moschee in Hull, die an jenem Tag angegriffen wurde, wollen sich dieser Tage dennoch keinesfalls öffentlich zu den Krawallen äußern, zu groß ist die Angst vor einem erneuten Aufflammen der Gewalt. Dass es dazu kommt, glaubt zumindest Raju Akter nicht. „Angesichts der hohen Strafen, die verhängt wurden, ist vielen das Risiko nun zu groß.“

Organisiert wurden Proteste in Hull von John Francis Gilling. Er ist Gründer einer Gruppe, die sich „Hull Patriotic Protesters“ nennt. Nach Angaben von „Hope Not Hate“, einer Organisation, die sich gegen Faschismus einsetzt, war Francis früher Mitglied der rechtsextremen und islamfeindlichen „English Defence League“. Rechtsextreme hätten Hull seit Jahren im Visier, so die Organisation.

Online-Influencer zündelten im Internet

Matthew Feldman, Experte für Rechtsextremismus an der Liverpool Hope University, unterscheidet bei den Teilnehmern der Proteste in England mehrere Gruppen. Neben Mitgliedern der lokalen rechten Szene hätten externe Online-Influencer „das Feuer mit Lügen angefacht“, sagt er dieser Zeitung. Die dritte und für ihn wichtigste Gruppe sind die Mitläufer. Sie seien nicht unbedingt rechtsextrem, betont er. Aber sie teilten wohl einige Sorgen über die illegale Einwanderung nach Großbritannien oder den Islam.

Ressentiments gegenüber FlüchtlingenZu den Ressentiments gegenüber Flüchtlingen beigetragen hat die rechtspopulistische Partei Reform UK unter Nigel Farage, die bei den Wahlen im Mai 14 Prozent der Stimmen erhielt. Sie nutze die illegale Einwanderung für sich, indem sie einfache Antworten auf ein schwer zu lösendes Problem gab. Reform UK trieb damit die Tories vor sich her. Der Slogan „Stoppt die Boote“ des ehemaligen Premierministers Rishi Sunak wurde zum Synonym für das Versprechen, Menschen, die über den Ärmelkanal nach Großbritannien gekommen waren, in ein Flugzeug zu setzen und in den ostafrikanischen Staat zu fliegen, wo sie bleiben oder in ihre Heimat abgeschoben werden sollten. Die neue Labour-Regierung unter Keir Starmer stoppte das Programm und will stattdessen gegen Schlepperbanden vorgehen. Im Jahr 2023 kamen knapp 30000 Menschen irregulär nach Großbritannien, was im europäischen Vergleich relativ wenig ist.

Meinung vor Ort: Krawalle als Schande

Spricht man mit den Menschen in Hull, verurteilen die meisten die Unruhen. Eine Gruppe von Frauen, die vor einem Pub in der Innenstadt am frühen Abend Bier trinkt, findet deutliche Worte in Bezug auf die Ausschreitungen. „Sie waren eine Schande“, sagt die 29-jährige Anthea und blickt in jene Richtung, in der Geschäfte im Zentrum geplündert und angezündet wurden. Die Engländerinnen sprechen sich gegen die Gewalt aus, machen aber auch deutlich, dass sie es ungerecht finden, dass Asylbewerber in Hotels untergebracht werden, während Wohnsitzlose auf der Straße schlafen müssen. In Hull leben Geflüchtete seit Jahren in privat betriebenen, umfunktionierten Hotels, die Bedingungen sind dabei oft jedoch alles andere als luxuriös, wie Hilfsorganisationen betonen. „In einem Hotel zu wohnen“, empört sich eine Frau in der Runde, sei jedoch ein Privileg, das viele Obdachlose nicht hätten. Von Ungerechtigkeit gegenüber den Einheimischen ist die Rede und von Unbehagen angesichts der Geflüchteten.

Im Zentrum von Hull, wo die Frauen ihr Bier trinken, ist von Armut und Ungleichheit auf dem ersten Blick wenig zu spüren. Hier zehrt die mittelgroße Stadt von ihrer reichen Geschichte. Touristen aus dem Umland kommen gerne hierher, große Kreuzfahrtschiffe ankern und bringen Besucher in die Stadt. „Wegen der historischen Gebäude werden hier viele Filme und Serien gedreht“, betont Stadtführer Paul Schofield bei einem Rundgang.

Aber viele umliegende Gegenden taugen nicht als Kulisse. Orchard Park, ein Wohnviertel im Norden der Stadt, ist einer der am stärksten benachteiligten Vororte. Wegen der rivalisierenden Jugendbanden vergleichen die Bewohner die Situation mit dem Wilden Westen. Organisierte Kriminalität und Drogenhandel bereiten große Probleme. Es sind Faktoren, die offenbar auch bei den Ausschreitungen in Hull eine Rolle gespielt haben. Wie viele Städte im Norden Englands hat auch Hull seit Jahrzehnten mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Bis in die 1930er-Jahre war die Altstadt fast vollständig von Docks umgeben und die Fischerei der wichtigste Wirtschaftszweig. Als die Fischerei im Nordatlantik in den 1970er-Jahren eingeschränkt wurde, traf dies Hull besonders hart. In den 1980er-Jahren kam Margaret Thatcher an die Macht. Sie leitete liberale Wirtschaftsreformen ein. Viele Jobs gingen verloren. Hull und andere nordenglische Küstenstädte erlebten einen langsamen Niedergang.

Von „Abgehängten“ und „Vergessenen“

Obwohl der Norden Englands heute nicht mehr industriell geprägt ist, zählen sich die meisten Menschen dort immer noch zur Arbeiterklasse, wie eine Studie des National Centre for Social Research (NatCen) zeigt. Wenn Politiker von „Abgehängten“ und „Vergessenen“ sprechen, meinen sie gerne die Menschen im Nordosten Englands. Und: Im Vergleich zur Mittelschicht sind sie stärker gegen Einwanderung und wählen eher rechte Parteien, sagt Gillian Prior vom NatCen dieser Zeitung. „Sie wollen, dass die Regierung etwas tut, um Einkommen umzuverteilen und Menschen aus der Armut zu holen.“ Und sie hätten das Gefühl, dass der Aufstieg schwieriger geworden ist. Mit anderen Worten: In ihrer Wahrnehmung verhärten sich die Klassengrenzen.

Der Shopbesitzer Raju Akter kann bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, dass einige Menschen in Hull Vorbehalte gegenüber Geflüchteten haben. „Sie haben das Gefühl, dass einige von ihnen sich nicht in die Gemeinschaft integrieren.“ Aber für rechtsextreme und faschistische Einstellungen hat er kein Verständnis. „Am Ende des Tages“, sagt der 40-Jährige, sollte es in einer Gemeinschaft jedoch sein „wie mit Yin und Yang“, das sich nicht bekämpft, sondern ergänzt. Ob das gelingt? Er hofft es auf jeden Fall.