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Lipstick-EffektWas Lippenstifte mit der Wirtschaftslage zu tun haben

Lesezeit 4 Minuten
Eine Mitarbeiterin von Schwan Cosmetics, dem Geschäftsfeld Kosmetik der Schwanhäußer Industrie Holding GmbH & Co.KG, hält einen Lippenstift aus der Produktion des Unternehmens in der Hand.

Die Kosmetikbranche steigert ihren Umsatz trotz sparsamer Verbraucher.

In Krisenzeiten steigt der Umsatz mit Kosmetikprodukten - der sogenannte Lipstick-Effekt. Das Verhalten erschließt jedoch nur einen Teil der komplexen Konsumdynamik

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten schnallen viele Menschen den Gürtel enger, der Konsum geht zurück. Doch eine Branche verzeichnet ein erhebliches Wachstum: „Der Umsatz mit Produkten für Schönheit und Sauberkeit hat im ersten Halbjahr 2024 deutlich zugelegt“, heißt es seitens des Industrieverbands Körperpflege- und Waschmittel (IKW).

Die Branche habe im deutschen und internationalen Einzelhandel einen Umsatz von 16,4 Milliarden Euro eingefahren – ein Anstieg um 3,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. „Schönheit und Sauberkeit haben für Verbraucher Top-Priorität“, frohlockt der IKW-Geschäftsführer Thomas Keiser.

Laut Börsen- und Aktiencoach Maximilian Gamperling ist eine Erklärung dafür, „dass sich Konsumenten in wirtschaftlich unsicheren Zeiten zwar den Kauf von teuren Luxusartikeln wie Designerkleidung oder Schmuck nicht leisten können oder möchten, dennoch aber kleine, relativ erschwingliche Luxusgüter als Trost oder andere Form des Luxus konsumieren“. Diese Produkte wie Lippenstifte bieten ein Gefühl von Wohlstand und Selbstverwöhnung, ohne dabei das Konto allzu sehr zu belasten.

Wissenschaft spricht von Lipstick-Effekt

Wissenschaftler sprechen bei diesem Phänomen vom sogenannten Lipstick-Effekt (Lippenstift-Effekt), der bereits während der Großen Depression in den 1930er Jahren eine Rolle gespielt hat. „In den vergangenen Jahrzehnten war das Phänomen auch in anderen Krisen, wie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 oder während der Finanzkrise 2008, beobachtet worden“, sagt Gamperling.

Die Idee, dass Menschen in Krisenzeiten anstelle von teuren Luxusartikeln auf kleinere Produkte ausweichen, habe allerdings auch etwas mit dem geschickten Marketing der Kosmetikunternehmen zu tun. „Es scheint mir eher ein Terminus aus dem Marketingbereich zu sein“, sagt denn auch die Ökonomin Alexandra Niessen-Ruenzi von der Uni Mannheim.

Die Werbung verspricht den Konsumenten einen erschwinglichen Hauch von Luxus: Kosmetikprodukte werden als kleine Fluchten aus dem tristen Alltag vermarktet, die Selbstwertgefühl und Normalität auch in schwierigen Zeiten aufrechterhalten sollen. Eine „Luxusflucht“ nennt Gamperling das.

Er verweist außerdem darauf, dass auch kulturelle und soziale Faktoren eine Rolle spielen. In Ländern wie den USA, Europa und Japan, in denen großer Wert auf persönliche Erscheinung und Pflege gelegt wird, sei der Lipstick-Effekt besonders stark ausgeprägt.

Allerdings warnt der Finanzcoach davor, das Phänomen als pauschalen Indikator für wirtschaftliche Abschwünge zu betrachten. „Wie man kürzlich an der wirtschaftlichen Situation in China und den Auswirkungen auf westliche Luxuskonzerne sehen konnte, hat der Effekt seine Grenzen.“

Prognosen zum Konsumverhalten sind schwer

In bestimmten Kontexten kann das Konsumverhalten schwer zu prognostizieren sein. So zeige sich beispielsweise in den USA: Trotz steigender Zinsen blieben die Immobilienpreise stabil, da viele Hausbesitzer schlichtweg ihre Immobilien nicht verkauften und auf bessere Zeiten warteten.

Das Konsumverhalten, so Gamperling, sei „vielschichtiger“ und könne nicht durch eine einfache Regel erklärt werden. Historische Muster wiederholen sich nicht immer, und ökonomische Indikatoren wie der Lipstick-Effekt liefern lediglich einen Teil des Gesamtbildes.

Zumal Kosmetika nicht die einzigen Produkte sind, deren Nachfrage in Krisenzeiten steigt. Demnach können auch andere Konsumgewohnheiten als Indikator für eine wirtschaftliche Rezession dienen: „Eine erhöhte Nachfrage nach Fast Food oder günstigen Lebensmitteln kann auf eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage hinweisen, da Konsumenten beginnen, günstigere Essensalternativen zu wählen“, erklärt Gamperling.

Ein weiteres Warnsignal sei der Rückgang der Nachfrage nach teuren Produkten wie Autos oder Fernsehern. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten neigen Verbraucher außerdem dazu, ihre Produkte länger zu nutzen und die Reparatur einem Neukauf vorzuziehen. „Ein Anstieg in der Nachfrage nach Ersatzteilen und Reparaturdienstleistungen kann ein Hinweis darauf sein, dass die Konsumenten sparsamer werden“, fügt der Finanzexperte hinzu.

In Deutschland ist die Nachfrage nach Kosmetikartikeln in den letzten Monaten gestiegen. Aber bedeutet das zwangsläufig eine sich verschlechternde Wirtschaftslage? Gamperling sieht das differenzierter: „Das wäre wohl zu vereinfacht in der Betrachtung. Es gibt viele Faktoren zu berücksichtigen.“

In Deutschland, so Gamperling weiter, zeigen sich wirtschaftliche Abschwünge ohnehin weniger stark im Konsumverhalten als in anderen Ländern. Das soziale Sicherungssystem sei hierzulande stärker ausgeprägt. Das führe dazu, dass konjunkturelle Probleme nicht so unmittelbar auf den privaten Konsum überschwappen wie beispielsweise in den USA.

Für Anleger stellt sich angesichts des anhaltenden Interesses an Kosmetikprodukten die Frage, ob es sich lohnt, in Kosmetikunternehmen zu investieren. Der Aktiencoach rät jedoch dazu, den Lipstick-Effekt bei der Anlage-Entscheidung nicht überzubewerten, „denn unabhängig davon können Produkte des einen Unternehmens gefragt sein, eines anderen nicht“.

Hohe Nachfrage nach Kosmetika als Konstante

Er empfiehlt, stattdessen einen genaueren Blick auf die wirtschaftliche Situation der Unternehmen zu werfen. Wachsende Umsätze und Gewinne seien hilfreiche Anzeichen dafür, ob eine Firma am Markt gefragt ist. „Generell lohnt es sich, nicht nur kurzfristige Effekte zu betrachten, sondern das Unternehmen fundamental zu prüfen.“ Nichtsdestotrotz sei langfristig, so Gamperling, mit einer stabilen Nachfrage nach Kosmetika zu rechnen. Das könnte gut aufgestellte Unternehmen zu einem soliden Investment machen.

Das mag zwar stimmen, doch generell gilt laut Ökonomin Niessen-Ruenzi: „Man sollte grundsätzlich als Privatanleger bei der Geldanlage Risiken streuen und keine Wetten auf einzelne Branchen und deren Entwicklung eingehen.“ Sie rate davon ab, jetzt verstärkt in Unternehmen der Kosmetik-Branche zu investieren. Denn selbst, wenn es einen Lipstick-Effekt gäbe, wäre er, so die Wirtschaftsexpertin, mit großer Wahrscheinlichkeit bereits eingepreist, bevor Kleinanleger damit Geld verdienen könnten.