Wie Künstlerinnen und Künstler seit dem 19. Jahrhundert auf den menschlichen Körper geblickt haben, zeigt die aktuelle Ausstellung „Nudes“ in Münster.
Kunst seit dem 19. JahrhundertSchau in Münster zeigt Vielfalt der Aktmalerei
Ihre Liebe endet wie jene von Romeo und Julia: tragisch. Francesca da Rimini und Paolo Malatesta bezahlen ihren Kuss mit dem Leben. Francescas erboster Ehemann erschlägt die Liebenden. Dante malt die Geschichte in der „Göttlichen Komödie“ herzzerreißend aus. Zum Glück gibt es Auguste Rodins Skulptur „Der Kuss“. Da sind Francesca und Paolo in einem Kuss versunken, der niemals endet. Zwei Nackte in inniger Umarmung: Rodins Plastik von 1901/1904 war noch in den Fünfzigern für einen Skandal gut. Heute streift sie den Postkartenkitsch. Gleichviel. Das Münsteraner LWL-Museum für Kunst und Kultur bekrönt mit dem Monumentalwerk seine neue Ausstellung, die ihr Thema mit dem englischen Titel „Nudes“ wie mit einem Feigenblatt kaschiert: die Nackten.
Wie nackt darf die Kunst sein?
Das Genre des Aktes, der zu Zeiten des 1917 verstorbenen Skulpturklassikers Auguste Rodin noch den Aufschrei produzierte, ist längst zum Verhandlungsfeld für Körper und Politik avanciert. Von der Akademie-Studie des 19. Jahrhunderts bis zum fotografierten Akt von Tracey Emin: 90 Werke machen den Bilderbogen zur Spurensuche, für deren Qualität vor allem die Tate in London einsteht.
Die Kooperation mit dem britischen Museum lohnt sich, weil sie wahre Meisterstücke für Münster zugänglich macht. 3,2 Tonnen schwer ist Rodins „Kuss“, der als marmorner Kunstkoloss im Ausstellungssaal auf Metallschienen ruht, die mit einem weiten Podest kaschiert sind.
Kaum weniger imposant nehmen sich drei jener Rückenreliefs aus, die Henri Matisse zwischen 1909 und 1930 zu monumentalen Bronzeplastiken formte. Pablo Picasso, Edgar Degas, Lucien Freud oder die Guerilla-Girls: Die Künstlerliste dieser Schau liest sich kaum weniger eindrucksvoll, auch wenn die ganz großen Namen oft nur mit einem einzigen Werk präsent sind.
Die Kuratorinnen Tanja Pirsig-Marshall und Ann-Catherine Weise teilen ihr Bildmaterial nach Kategorien und Epochen ein. Das Schema sorgt für Überblick, sperrt die Kunst zugleich aber auch in ein enges Begriffsraster. Überraschende Konfrontationen über Grenzen von Epochen und Stilen hinweg bleiben aus. Zudem bleibt die Präsentation nicht immer auf dem gleichen qualitativen Niveau. Wer kennt Francis Gruber oder Euan Uglow? Nicht jedes Bild aus dem Depot taugt zur Wiederentdeckung.
Trotzdem gibt es sie, die überraschenden Werke, die eingefahrene Urteile über den Akt als einstmals akademischer Pflichtübung für angehende Künstler dementieren. Und es sind vor allem die Frauen, die frische Akzente setzen. Alice Neel malt ihre Freundin Ethel Ashton 1930 als füllige Frau, die jedem Ideal des makellosen weiblichen Körpers widerspricht. Die Britin Gwen John malt nicht nur die nackte Frau, sie steht auch selbst unbekleidet Modell. Der Akt avanciert zum Statement weiblicher Selbstbefreiung.
Gerade mit diesen Bildern gewinnt die Präsentation Prägnanz und Dichte, wird aussagekräftig zu jenem Thema, das sich mit dem Akt stellt – der Frage nach Körper und Macht, nach einem Blick auf den meist weiblichen Körper, der auch die freie Verfügung meint.
Der schockierende Moment bleibt aus
In Münster ist nun zu verfolgen, wie sich das Genre des Aktes als offen und wandlungsfähig erweist. Ob die desillusionierenden Körperbilder von Francis Bacon oder Lucien Freud oder die selbstbewusste Darstellung des geschlechtlich uneindeutigen Körpers bei Sylvia Sleigh – Aktbilder provozieren Fragen nach Körperidealen und politischer Korrektheit.
Schade nur, dass der historische Überblick bei jenen Positionen endet, die heute nicht mehr provozieren. Aktfotos von Tracey Emin oder Rineke Dijkstra aus den Neunzigern gehören längst zum Kunstkanon. Sie regen nicht mehr auf. Schade auch, dass sich die Ausstellung weitgehend auf das Medium des Bildes beschränkt bleibt und die Farbregie so wenig geglückt erscheint. Realistische Körperbilder auf feurigem Rot, Body Politics auf blassem Grau: Die Wahl der Wandfarben schickt den Besucher durch ein irritierendes Wechselbad der Befindlichkeiten.
Dennoch. Die Zeiten, in denen auf Gemälden Ritter in schimmernden Rüstungen nackte Jungfrauen retten müssen, sind lange vorbei. In Münster ist nachzuverfolgen, wie sich mit der Entwicklung des Aktes nicht nur Künstler von Konventionen befreien. Was sich in den Bildern spiegelt, ist auch jener Kampf um Freiheiten, der alle betrifft – und der zu jeder Zeit aufs Neue geführt werden muss. Körper ist Politik. Das wusste schon Auguste Rodin, als er sein küssendes Traumpaar aus dem Marmor meißelte.
Bis 14. April 2024, geöffnet Di bis So 10–18 Uhr. LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster.
Münster als Kunstort
Münster avanciert immer mehr zu einem guten Ort der Kunst. Das ist nicht nur dem Kunstmuseum Pablo Picasso zu verdanken, sondern auch dem LWL Museum. Der 2014 eröffnete Neubau bietet mit einer Wechselausstellungsfläche von 1100 Quadratmetern ein Metropolenformat. Entsprechend gestalten die Kuratoren ein Programm, das große Namen und Themen aufbietet. Vor allem die Kooperation mit der Londoner Tate ermöglicht beste Leihgaben – allerdings gegen Gebühr. Henry Moore im Jahr 2016, die 2019/2020 von 137000 Menschen besuchte Ausstellung der Werke William Turners und nun „Nudes“: Dank der Tate kommt große Kunst nach Münster. 2024 geht es einmal ohne das britische Vorzeigehaus weiter. Dann präsentiert das LWL-Museum den Expressionisten Otto Mueller, zum 150. Geburtstag des Künstlers und Mitgliedes der „Brücke“. (lü)