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Krieg in der UkraineDruck auf wehrpflichtige Ukrainer in Deutschland wächst

Lesezeit 7 Minuten
Die Lage für die ukrainischen Soldaten rund um Awdijiwka ist nach Einschätzung des Generalstabs schwierig.

Die Lage für die ukrainischen Soldaten rund um Awdijiwka ist nach Einschätzung des Generalstabs schwierig.In Deutschland leben wehrpflichtige Ukrainer, die nun zunehmend unter Druck geraten.

Für einige gelten sie als Verräter, für andere als Drückeberger: Rund 200.000 wehrpflichtige Ukrainer leben in Deutschland. Die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew erhöht jetzt den Druck, um auch sie im Krieg gegen Russland an die Front zu holen.

Zürich Zuerst sind sie bei Verwandten in Berlin untergekommen, jetzt sitzt Dmitri mit seiner Frau in der Küche ihrer neuen Bleibe im ländlichen Schleswig-Holstein. Er blickt auf mit Eis überzogene Wiesen und Felder. In Kiew, seiner Heimatstadt, schaute er auf Hochhäuser und mehrspurige Straßen. Er hat dort als Architekt gearbeitet.

Die Schwägerin Juliana, die seit 29 Jahren in Berlin lebt, hat ihre Verwandten schon vor Kriegsausbruch gedrängt, nach Deutschland zu kommen. Acht Tage bevor russische Panzer die ukrainische Grenze durchbrachen, erreichten sie die deutsche Hauptstadt. Alle waren unendlich froh, in Sicherheit zu sein. Schnell kamen aber auch Zweifel und später Gewissensbisse, wie Juliana erzählt.

Scham vor der eigenen Entscheidung?

„Ich sollte nicht hier sein, ich sollte in meiner Heimat sein“, sagt der 40-jährige Dmitri immer wieder. „Du hast niemals in der Armee gedient. Du bist für den Wiederaufbau unseres Landes viel nützlicher“, erwidert Juliana darauf. Vor allem, wenn er an gute Freunde denkt, kommt Dmitri ins Grübeln. Einer war Präsident einer Bank und ist jetzt zusammen mit seinem Sohn bei der Flugabwehr. Ein weiterer ist IT-Spezialist und programmiert jetzt Drohnen. Sie alle leisten ihren Dienst an der Front.

Viele Männer im wehrpflichtigen Alter, wie auch Dmitri, meiden den Kontakt mit anderen ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland. Sie würden dann in die Gesichter der Frauen blicken, deren Männer ihre Heimat verteidigen oder gar schon gefallen sind.

Ukrainische Männer im Ausland führen viele Gründe an, um nicht an die Front zu gehen. Aber kaum einer mag darüber offen reden, sich erklären. Sie fühlen Scham, als Feigling tituliert zu werden, oder kommen mit der eigenen Zerrissenheit nicht klar.

Die Ukraine hat nach fast zwei harten Kriegsjahren große Probleme bei der Mobilisierung. Die Armeeführung sprach von bis zu 500000 Soldaten, die fehlen. Schon seit Kriegsbeginn darf kein Mann zwischen 18 und 60 Jahren das Land mehr verlassen – außer in Ausnahmefällen.

Nach neuen Plänen der Regierung sollen auch die im Ausland lebenden Landsleute nicht von der Mobilisierung verschont werden. Allein in Deutschland halten sich rund 200000 Ukrainer im wehrpflichtigen Alter auf. Sie befürchten, dass der Einberufungsbefehl kommen könnte und sie zurückmüssten.

Nachdem der Gesetzentwurf bei vielen Ukrainern für Panik gesorgt hatte, stellte die Armeeführung klar: Niemand wird gegen seinen Willen aus dem Ausland zurückgeholt. Es sei vielmehr ein „dringender Appell“.

Am Anfang hatte ich überlegt, an die Front zu gehen. Aber ich bin überzeugt, dass ich hier viel nützlicher bin.
Andrej Ilin, Rechtsanwalt

Die Armeeführung will die Altersgrenze für die uneingeschränkte Kriegsdienstpflicht von 27 auf 25 Jahre senken, hat entsprechende Pläne nach Widerstand im Parlament aber vorläufig zurückgezogen. Alle Männer im wehrpflichtigen Alter müssten demnach im Wehrregister registriert sein und die Angaben regelmäßig aktualisieren. Nur mit diesen Unterlagen wäre beispielsweise eine Verlängerung des Reisepasses möglich. Nach Bekanntwerden der Pläne gab es einen Ansturm auf Konsulate und Botschaften im Ausland.

„Ich habe Angst und bin gegenwärtig nicht bereit, an die Front zu gehen“, macht der 24-jährige Alexander unmissverständlich klar. Vor zweieinhalb Jahren kam er nach Deutschland und studiert an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder Geschichte. „Ich bin überzeugt, dass dieser Krieg noch Jahre dauern wird. Da habe ich noch Zeit, meinem Land zu dienen“, meint er. Nein, ein schlechtes Gewissen habe er nicht. „Aber es schlagen zwei Herzen in meiner Brust.“ Am Tag des russischen Überfalls, am 24. Februar 2022, war Alexander zu Besuch bei seiner Familie in Chmelnizki, einer Stadt im Zentrum der Ukraine. Er habe sich sofort freiwillig für die Territorialverteidigung gemeldet, einer Reservisteneinheit, in der auch Zivilisten mitarbeiten, berichtet er. Er wurde in einer Großküche eingesetzt.

Ende März wollte Alexander zurück nach Deutschland, seine Freundin wartete dort. An einem Grenzübergang nach Polen sei er abgewiesen worden, weil er nicht die notwendigen Papiere gehabt habe. Am zweiten Grenzübergang habe es geklappt. Wie genau, will Alexander nicht erklären. Er sagt nur: „Es hat Diskussionen gegeben.“

„Ich kenne persönlich keinen, der freiwillig an die Front wollte“, sagt Alexander. Auch wenn in ukrainischen Medien immer solche Geschichten zu lesen seien. Mit dem neuen Gesetz kommt die Angst näher, auch wenn er weiß, dass Deutschland die Wehrpflichtigen nicht ausliefert. „Moralisch wäre es richtig, in die Ukraine zurückzukehren“, meint der Student. Aber in Deutschland könne er mehr für sein Land erreichen, wie Spenden sammeln oder dolmetschen für seine Landsleute, die noch kein Deutsch können, findet er.

Wir, die wir hiergeblieben sind, haben durchaus das Recht, jene, die geflohen sind, mit Verachtung zu strafen.
Sergei Gerasimow, Schriftsteller aus Charkiw

Andrej Ilin hat in Berlin Jura studiert, er lebt schon seit 2007 in Deutschland. Seit der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion im Jahr 2014 ist er aktiv in der Ukraine-Hilfe. „Ich war völlig überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass Putin sich das traut“, erinnert er sich an den Tag des russischen Überfalls vor rund zwei Jahren. „Am Anfang hatte ich überlegt, an die Front zu gehen. Aber ich bin überzeugt, dass ich hier viel nützlicher bin“, sagt der 35-Jährige, der wegen gesundheitlicher Probleme eingeschränkt wehrpflichtig ist. Es gebe ausreichend wehrpflichtige Männer in der Ukraine, meint er. „Ich musste mich nicht erklären, aber ich musste mich vor mir selbst rechtfertigen“, sagt er nachdenklich. Er ist in der Stadt Tscherniwzi aufgewachsen. Die meisten seiner Freunde sind an der Front – manche sind gefallen. Einen Tag nach dem russischen Überfall hat Andrej eine Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin organisiert und sofortige militärische Unterstützung von Deutschland für sein Heimatland gefordert. Danach war er täglich in der Ukraine-Hilfe aktiv, sammelte Spenden und koordinierte die Hilfslieferungen. In den ersten Kriegswochen gingen täglich ein oder zwei Lastwagen voller Hilfsgüter an die polnische Grenze und wurden dort auf Kleintransporter umgeladen, wie er berichtet.

Andrej und weitere Unterstützer sammelten Geld und kauften davon Splitterschutzwesten, Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräte und Thermounterwäsche für die Front. Die Liste mit den benötigten Sachen bekamen sie über die sozialen Netzwerke. „Es ist immer alles an der Front angekommen, auch weil wir Vertrauenspersonen einsetzen“, sagt Andrej, der inzwischen akzentfrei Deutsch spricht. Seine Arbeit als Rechtsanwalt hängte er für eineinhalb Jahre an den Nagel – es gab zu viel zu tun.

Doch Andrej kritisiert auch die ukrainische Regierung, die seiner Meinung nach eine falsche Informationspolitik bei der Verschärfung der Mobilisierung betreibt und nicht ausreichend gegen die weitverbreitete Korruption im eigenen Land vorgeht. Es habe Korruptionsskandale gegeben, bei denen internationale Hilfe abgezweigt worden sei, sagt er. „Die Menschen in der Ukraine wissen das, und es hat sie empört.“ Jetzt seien zwar einige Korruptionsnetzwerke zerstört worden. „Aber die Bevölkerung ist demotiviert, die Soldaten sind schlecht ausgerüstet“, so beschreibt er die Stimmung.

Ende August entließ Präsident Selenskyj die Leiter aller 24 Wehrämter in der Ukraine, weil die Korruption dort so durchdringend war. Die Schmiergelder für Untauglichkeitsbescheide oder Zurückstellungen von der Einberufung sollen mehrere Millionen Dollar betragen haben. Andere junge Männer verstecken sich im eigenen Land, gehen nicht mehr vor die Tür, um von den Rekrutierungsbeamten nicht erwischt zu werden. Wiederum andere bezahlen bis zu 10000 Dollar für Schlepper, um über die grüne Grenze nach Polen oder Rumänien gebracht zu werden. Entlang der Grenze blüht der Schwarzmarkt für gefälschte Ausweisdokumente und Schleuser. Mehr als 20000 Männer haben ukrainische Grenzbeamten seit Kriegsbeginn bei der Fahnenflucht erwischt.

Die ukrainische Schriftstellerin und Verlegerin Katerina Mischtschenko kam mit ihrem Kind kurz nach Kriegsbeginn nach Berlin. Sie kennt viele dieser Berichte über Wehrpflichtige, die vor der Einberufung flüchten. Sie weiß auch um die große Unzufriedenheit der Soldaten, die schon ununterbrochen seit zwei Jahren an der Front kämpfen. „Es ist schwer, das zu erleben, und sicherlich eine Ungerechtigkeit“, sagt sie. Aber es sei nicht die Schuld der Menschen, sondern jene des Krieges. „Der Feind sind nicht diejenigen, die der Mobilisierung entgehen wollen.“

Der Schriftsteller Sergei Gerasimow aus Charkiw formuliert es in einem Essay in der NZZ drastischer: „Wir, die wir hiergeblieben sind, haben durchaus das Recht, jene, die geflohen sind, mit Verachtung zu strafen.“

Dieser Artikel erschien zuerst in der „Neuen Zürcher Zeitung“.