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Keine Sicherheit nach dem AusstiegClan-Frauen finden nur schwer Schutz vor Gewalt aus dem Umfeld

Lesezeit 5 Minuten
Zwei Polizisten führen eine Person in Handschellen ab, die eine Jacke über den Kopf trägt.

Drogenhandel, Waffenverstöße, Geldwäsche: In Berlin kämpfen die Behörden seit Jahren mit kriminellen Clan-Strukturen.

Eine Clan-Aussteigerin und Autorin lebt nach der Veröffentlichung ihres exklusiven Blicks in ihre ehemalige kriminelle Familie in ständiger Angst vor Vergeltung.

Berlin-Biesdorf, ein Donnerstag im Oktober. An diesem Vormittag geht es auf dem Gelände des Krankenhauses ruhig zu. Greise Patienten schieben ihre Rollatoren über die geschwungenen Wege, die den parkähnlichen Klinikkomplex im Osten der Hauptstadt durchziehen. Viele Gebäude stammen noch aus der Kaiserzeit. Die Sonne scheint, Laub raschelt unter den Schuhen.

Vor dem Haupteingang stehen ein paar Mitarbeiterinnen und rauchen. Haben sie etwas von einer Frau mitbekommen, die hier offenbar im September unter Polizeischutz wegen Brandverletzungen und Blutergüssen behandelt wurde? Dazu können oder wollen sich die Mitarbeiterinnen nicht äußern. Ärztliche Schweigepflicht. Eine Krankenpflegerin sagt aber, dass sie hier öfters Patienten haben, die von Polizisten begleitet werden. Leute, die im Gefängnis sitzen zum Beispiel. „Oder auch Clan-Mitglieder.“ Die Frau, für die das Unfallkrankenhaus Berlin laut mehreren Medien tagelang von Beamten mit Maschinenpistolen gesichert wurde, ist Teil eines Clans. Oder besser gesagt: war.

Unter Pseudonym ein Buch veröffentlicht

Die vierfache Mutter hat ihrer Familie bereits wohl vor Jahren den Rücken gekehrt. Schon das hatte nach ihren eigenen Schilderungen Bedrohungen und Gewalttaten zur Folge. Unter dem Pseudonym „Latife Arab“ schrieb sie das Buch „Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan“. Mit der Veröffentlichung des Buches erhöhte sich die Gefahr für sie noch einmal signifikant. Die Staatsanwaltschaft Berlin, die offiziell beim aktuellen Fall nur von einem Angriff auf eine „bekannte Clan-Aussteigerin“ spricht, sah im März noch einen sogenannten Gefährdungsüberhang für Leib und Leben, wie es auf Anfrage heißt. Der Frau drohte der Tod durch die eigene Familie.

Es war der Monat, in dem der Heyne-Verlag das Buch der Deutsch-Türkin herausgebracht hat, das einen erschreckenden Einblick in das Leben einer kriminellen Clan-Familie gibt: Verachtung für die deutsche Gesellschaft, möglichst viele Kinder bekommen für mehr Sozialleistungen, hierarchische Strukturen. Sie selbst sei schon als Kind für kriminelle Zwecke, etwa als Geldbotin missbraucht, mit 17 Jahren zwangsverheiratet worden, erlebte Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht und Gewalt in der Ehe.

Der Clan selbst soll sich längst im Ruhrgebiet, Berlin und ganz Deutschland einen Namen gemacht haben. Um welchen es sich handelt, schrieb Latife Arab zu ihrem eigenen Schutz nicht. Auch Interviews mit Medien gibt sie nur schriftlich, beim publizierenden und für die Echtheit der Geschichten bürgenden Heyne Verlag soll es nach Informationen unserer Redaktion nur ganz wenige ausgewählte Personen geben, die überhaupt Kontakt zur Autorin gehabt haben. Es waren Vorsichtsmaßnahmen, die offenbar nicht ausreichten. Die eigene Familie erkannte die wahre Identität Latife Arabs schnell.

Staatsanwaltschaft Berlin hält sich bedeckt

Erschwerend kam hinzu, dass die Aussteigerin Beratungs- und Schutzangebote der Polizei „nur bedingt angenommen“ habe, wie Alexander Poitz von der Polizeigewerkschaft GdP im Gespräch mit unserer Redaktion sagt. „Dafür kann es sehr individuelle Gründe geben. Nicht jeder möchte sein nahezu komplettes Leben aufgeben, auch wenn die Polizei das aufgrund der Gefährdungssituation als sinnvoll erachtet“, ergänzt der stellvertretende Bundesvorsitzende. Gemessen daran sei „es beinahe schon überraschend, dass es ein halbes Jahr gedauert hat, bis die Clanstrukturen die Aussteigerin gefunden haben“.

Auch nach dem Angriff auf sie diesen Herbst soll Latife Arab nur wenige Angaben zu ihren Peinigern gemacht und Polizeischutz abgelehnt haben. So bleibt vieles bislang im Unklaren, die Staatsanwaltschaft Berlin hält sich bedeckt, um Ermittlungen nicht zu gefährden. Selbst eine Antwort zur aktuellen Gefährdungslage der Aussteigerin wäre bereits zu viel, beteuert ein Sprecher. Die Behörden wollen und müssen offenbar sichergehen, dass rein gar nichts nach außen dringt. Auch der Verlag und das Krankenhaus in Berlin-Marzahn wollen und dürfen derzeit nichts zu dem Vorfall sagen.

Entsprechend vorsichtig ist auch GdP-Vize Poitz. Über die Hintergründe könne man nur spekulieren. „Der Angriff sieht zunächst nach einer Warnung getreu dem Motto ,Wir finden dich‘ aus.“ Es sei schwer vorstellbar, dass die Frau nun das Schlimmste überstanden habe. „Kriminelle Organisationen und Clans sind darauf aus, das Risiko für ihre Ziele und Strukturen durch Aussteiger zu minimieren. Und nicht selten mussten Menschen deswegen schon sterben“, mahnt Poitz.

Diese brutale Denkweise macht es für Mitglieder krimineller Familien ohnehin schon schwierig, aus den Strukturen auszubrechen. Und die Außenwirkung nach dem Angriff auf die bekannte Clan-Aussteigerin ist schon jetzt – bei allen Unklarheiten – fatal. „Das Signal, das dieser Fall an andere potenzielle Aussteigerinnen sendet, ist besorgniserregend: Es zeigt, dass selbst staatlicher Schutz möglicherweise nicht ausreicht, um sie vor Repressionen und Vergeltung durch ihre eigenen Familien zu bewahren“, sagt Clanforscher Mahmoud Jaraba, der in den vergangenen Jahren viele Gespräche auch mit Mitgliedern krimineller Sub-Clans geführt hat.

Kann der Staat Sicherheit nicht gewährleisten?

Für viele Frauen, die über einen Ausstieg nachdenken, verstärke sich der Eindruck, dass der Staat ihre Sicherheit nicht gewährleisten kann. „Das Vertrauen in den Schutz und die Unterstützung durch die Behörden ist bei diesen Frauen ohnehin oft gering, und ein Fall wie dieser kann Zweifel daran nähren, ob sich der mutige Schritt, das familiäre Umfeld zu verlassen, überhaupt lohnt.“

Ähnlich sieht es auch Polizeigewerkschafter Poitz: „Der Schaden ist mit Blick auf andere potenzielle Aussteiger riesig.“ Es sei ein „absolutes Negativ-Signal“ für alle Menschen, die überlegen, selbst aus so einer Struktur herauszukommen.


Aussteigerin schildert brutalen Angriff

Schonungslos detailliert schildert Clan-Aussteigerin Latife Arab in ihrem Buch „Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan“ einen Angriff aus dem Jahr 2015, den sie nur mit Glück überlebte. Damals ist es fünf Jahre her, dass sie ihrer Familie den Rücken gekehrt hat: „Mein Angreifer zerrt mich nach vorn, mechanisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Jedes Gefühl für Raum und Zeit habe ich verloren. Er stößt mich in ein Gebüsch und ich falle zu Boden. Stehe aber sofort wieder auf und versuche ein letztes Mal wegzulaufen. Er packt mich an den Haaren und hält mich fest. Ich trete um mich, schlage mit den Fäusten auf ihn ein, es hilft nichts. Er schlägt zurück, ich schreie so laut ich kann. Mit beiden Händen drückt er mich gegen einen Baumstamm und presst mir die Kehle zu. Ich verliere das Bewusstsein und sacke zusammen.“ (tpr)