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Interview

SPD-Politiker Jochen Ott
„Wer unsere Freiheit bekämpft, wird nie zu uns gehören“

Lesezeit 5 Minuten
Düsseldorf: Jochen Ott, Vorsitzender der SPD-Fraktion in Nordrhein-Westfalen und Oppositionsführer, spricht bei einer Sondersitzung des Landtags zum Anschlag in Solingen.

Düsseldorf: Jochen Ott, Vorsitzender der SPD-Fraktion in Nordrhein-Westfalen und Oppositionsführer, spricht bei einer Sondersitzung des Landtags zum Anschlag in Solingen.

„Die Menschen müssen erkennen, dass die Politik eine offene Gesellschaft will, aber nicht doof ist“, sagt SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott. Er ist für Härte gegen straffällige Asylbewerber.

Jochen Ott führt seit gut einem Jahr die SPD-Landtagsfraktion und ist damit im NRW-Parlament Hauptwidersacher von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Vor den Wahlen in Thüringen und Sachsen sprach der Kölner mit Torsten Droop und Matthias Korfmann über den Zustand seiner Partei, den Rechtsruck im Osten und die Frage: Wer darf bleiben, wer muss gehen?

Herr Ott, gehören Sie auch zu denen, die nach der Tat von Solingen nach mehr Abschiebungen rufen?

Es gibt eine Leit-Überschrift: Wer sich nicht an die Regeln hält, muss wieder gehen. Und wer unsere Freiheit bekämpft, wird nie zu uns gehören. Die Grundlage für unsere soziale Demokratie ist, dass sich die Menschen hier sicher und frei fühlen können.

Wir wissen aber, wie schwierig es ist, Terror und Kriminalität zu bekämpfen und jene, die Regeln brechen, abzuschieben. Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?

Zum Beispiel werden wir die Befugnisse unserer Geheimdienste und Ermittlungsbehörden prüfen müssen, um sicherzustellen, dass sie IP-Adressen konsequent auswerten und an die Staatsanwaltschaften geben dürfen. Es kann nicht sein, dass Terroristen Hass-Videos posten, dass Rechtsradikale gegen Menschen hetzen und der Rechtsstaat keine Möglichkeit hat, an die Adressen zu kommen. Die Menschen müssen erkennen, dass die Politik eine offene Gesellschaft will, aber nicht doof ist.

Und beim Thema Abschiebung?

Friedrich Merz Ruf nach Aufnahmestopps zum Beispiel für Geflüchtete aus Afghanistan ist unterirdisch. Was sagen wir den Ortskräften, die dort die deutschen Soldaten unterstützt haben und nun gerettet werden müssen? Sollen wir die wieder zurückschicken? Sollen wir Frauen, die jetzt rechtlos geworden sind, an der Grenze abweisen, weil sie aus Afghanistan sind? Das ist doch absurd und fast menschenverachtend. Das individuelle Grundrecht auf Asyl ist unantastbar. Allerdings muss es leichter werden, Menschen, die unsere Regeln brechen, auch wieder nach Afghanistan oder Syrien abzuschieben. Schon gar, wenn sie ihren Urlaub in diesen Ländern verbringen, denn dann ist klar, dass sie nicht verfolgt werden.

Befürchten Sie, dass das wichtige Thema Zuwanderung nun in Verruf gerät?

Leider, ja. Wir müssen dennoch offen darüber reden. Ich wundere mich sehr, wenn in Teilen Ostdeutschlands von migrantenfreien Zonen schwadroniert wird. Wer soll denn dort die vielen alten Menschen in den kommenden Jahren pflegen? Ohne Fachkräfte aus dem Ausland geht das nicht. Millionen Menschen, die zugewandert sind und gut integriert in Deutschland leben, grenzen sich scharf von Attentätern und Extremisten ab. Wichtig ist, dass jemand ein Recht hat, hier zu sein, und sich an die Regeln hält – und nicht, wo er herkommt.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Wahlen in Sachsen und Thüringen?

Mit Sorge. Es geht um die Frage, wie wir zukünftig in Deutschland leben wollen. Es gibt für junge Ostdeutsche keinen Grund, faschistisch zu wählen. Dass dies trotzdem passiert, zeigt, dass wir uns fragen müssen, wie wir wieder ganz normale Bürgerinnen und Bürger für politisches Engagement begeistern können. Mitglieder von Schützen-, Kleingarten- und Sportvereinen gehören wieder in die Parlamente. Im Osten ist die parteipolitische Durchdringung leider besonders gering. Wir können in Thüringen und Sachsen sehen, was passiert, wenn demokratische Strukturen in Vierteln und Stadtteilen zerbröseln. Aber auch in NRW wird es immer schwerer, Menschen für Bezirksvertretungen und Räte zu finden. Leider hat es bei uns und in anderen Ländern 50 Jahre lang einen Trend zur Liberalisierung und Individualisierung gegeben. Am Ende steht der Einzelne mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt, aber nicht mehr die Bedürfnisse aller. Auch Teile der SPD haben das unkritisch mitgemacht. Solidarität und Engagement sind aus der Mode. Am Ende fragen sich die Leute: Warum soll ich bis 22 Uhr im Rat sitzen, um einen Radweg zu beschließen? Was ist mein persönlicher Nutzen?

In Thüringen und Sachsen liegt die SPD laut Umfragen bei sechs bis sieben Prozent, die AfD bei 30. Sachsen und Thüringen sind Gründungsorte Ihrer Partei. In Erfurt haben 1970 Tausende gerufen: „Willy Brandt ans Fenster“. Wie konnte sich die SPD dort derart marginalisieren?

Unterm Strich ist das eine schwierige Lage, sie ist aber schon seit vielen Jahren so. Wichtiger als der Blick zurück ist, wie man das ändern und verhindern kann, dass die Frustration, die manche Teile der ostdeutschen Bevölkerung offenbar gegenüber der Demokratie empfinden, auf ganz Deutschland überschwappt. Noch nie in der Geschichte hatten in Deutschland Menschen über eine so lange Zeit Frieden, Freiheit und Wohlstand. Das müssen wir verteidigen.

In NRW ist die SPD nicht so winzig, liegt aber in Umfragen nur noch bei 16 bis 19 Prozent und hat 2022 das historisch schlechteste Landtagswahlergebnis eingefahren. An welcher Stelle sind Sie falsch abgebogen?

Die Bestandsaufnahme ist richtig, aber es hat sich etwas Wichtiges geändert: Wir arbeiten in der SPD in NRW und im Bund nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander. Die SPD hat in NRW auch geklärt, für wen sie Politik macht: die berufstätigen Familien. Wir wollen in den Mittelpunkt stellen, was zuhause am Esstisch besprochen wird: permanente Erschöpfung, Kita- und Schulkrise, schlechte Straßen, maroder Nahverkehr. Für all diese Dinge ist die Landespolitik verantwortlich. Klar ist aber auch: Der Zustand der Ampel und der ständige Streit dort schlägt auch auf die Umfrageergebnisse der SPD in NRW durch.