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Interview

Islamexpertin
Wie fundamentalistisch sind junge Muslime, Frau Kaddor?

Lesezeit 4 Minuten
17.05.2024, Berlin: Lamya Kaddor (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied des Deutschen Bundestages, spricht im Plenum des Deutschen Bundestages.

Warnt vor voreiligen Schlüssen: Lamya Kaddor.

Islamexpertin und Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor (Grüne) lässt kaum ein gutes Haar an einer von der Uni Münster durchgeführten Umfrage unter Jugendlichen. Sie plädiert vor allem für mehr Bildung.

Frau Kaddor, vor zwölf Jahren wurde in NRW der islamische Religionsunterricht eingeführt. Heute erreicht er nur knapp sechs Prozent der muslimischen Schülerinnen und Schüler, und er wird nur in rund 250 von 5000 Schulen angeboten. Das kann nicht zufriedenstellen, oder?

Das ist eine schlechte Bilanz. Dieser Religionsunterricht kann den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken und für die Identitätsbildung und Religionsmündigkeit vieler junger Menschen Gutes bewirken. Die Jugendlichen brauchen Vorbilder, die ihnen erklären, dass sie selbstverständlich Muslime sein können und loyale deutsche Staatsbürger. Manchmal glaube ich aber auch, die Eltern brauchen mehr Religionsunterricht als ihre Kinder.

Was bremst den Ausbau? Sind es fehlende Lehrkräfte? Der politische Wille?

Der politische Wille müsste größer sein. Leider ist auch die Nachfrage nach diesem Studium zu klein. Es gibt zudem in vielen Schulen Vorbehalte gegen diesen Unterricht. Und viele Eltern wissen gar nicht, dass sie Religionsunterricht einfordern können.

Das Elternnetzwerk NRW und der Verband Muslimischer Lehrkräfte haben empört auf eine Umfrage des Zentrums für islamische Theologie reagiert. Sie sprechen von tendenziösen und suggestiven Fragen. Darf man muslimische Jugendliche nach ihren Einstellungen zu Homosexualität, Umgang mit anderen Religionen und zur Loyalität mit den Gesetzen fragen?

In der Wissenschaft sind solche Erhebungen üblich, das sollten die Eltern wissen. Eine Universität muss unabhängig forschen dürfen, und man muss auch Fragen ertragen. Es ist ja wichtig zu wissen, wie muslimische Kinder denken. Viele muslimische Eltern sehen sich als Opfer von Islamfeindlichkeit, weil sie tatsächlich damit konfrontiert sind. Dennoch sollten sie nicht alles gleich abwehren. Man kann durchaus auch Minderjährige befragen. Die Umfrage war ja anonym und die Teilnahme freiwillig. Mich stört etwas anderes.

Was?

Diese Umfrage bleibt leider nur an der Oberfläche. Man muss die Ergebnisse mit Vorsicht betrachten.

Warum?

Es handelt sich um Minderjährige, denen es noch an Orientierung fehlt. Zudem sind ihre Antworten weder repräsentativ noch im Einzelnen aussagekräftig. Man kann daraus höchstens Tendenzen herauslesen. Außerdem ist der Zeitpunkt der Umfrage fragwürdig. Denn nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat der Antisemitismus hierzulande zugenommen. Antisemitismus ist ein Bindeglied zwischen Rechts- und Linksextremisten und Islamisten, Querdenkern und Reichsbürgern. Nimmt er zu, zieht er all diese Extremismusformen gleich mit.

Was heißt das für die Umfrage?

In einer solchen Situation muss ich besonders sensibel fragen und gegebenenfalls auf einen besseren Zeitpunkt warten. In dieser aufgewühlten Stimmung, die Juden und Muslime und viele andere mit persönlichem Bezug zum Nahen Osten massiv unter Druck setzt, lassen sich kaum Schlüsse zu allgemeinen Einstellungen ziehen.

Warum sind die Fragen tendenziös?

Es wird zum Beispiel gefragt, ob jemand meint, nur in seiner Religion lasse sich Gott finden. Wenn das ein 14-Jähriger ankreuzt, kann man ihm nicht automatisch Fundamentalismus unterstellen. Es wird zum Beispiel in der Umfrage die Antwortmöglichkeit gegeben, der Islam werde „in Teilen der westlichen Öffentlichkeit“ kritisch gesehen. Das geht so nicht. Damit suggeriere ich schon in der Frage, es gebe eine westliche und eine nicht-westliche Öffentlichkeit, und der Islam gehöre zur nicht-westlichen Öffentlichkeit.

Ist diese konfliktreiche Zeit nicht sogar der beste Zeitpunkt, um die Kinder nach ihren Einstellungen zu fragen?

Nur dann, wenn man anschließend qualifizierte Interviews mit den Kindern führt und die Antworten nicht einfach so stehen lässt. Nur so findet man heraus, warum jemand zum Beispiel vorgibt, Homosexualität abzulehnen oder zu meinen, Frauen sollten andere Rechte haben als Männer. Wenn man muslimische Jugendliche zum Beispiel fragt, ob sie sich vorstellen könnten, in einem Kalifat zu leben, dann würden die meisten „Ja“ ankreuzen. Nicht, weil es Islamisten sind, sondern weil sie keine Ahnung haben, was ein Kalifat ist. Sie ordnen das Wort einfach ihrer Religion zu. An dieser Stelle müsste die Umfrage, das Interview, das Gespräch mit den Jugendlichen erst richtig beginnen und nicht enden. Dann könnte man nämlich erfahren, ob einige Jugendliche wirklich ein Kalifat möchten.

Ist die Umfrage bei Prof. Mouhanad Khorchide und dem Zentrum für Islamische Theologie in Münster in guten Händen?

Prof. Khorchide ist nicht unumstritten, auch unter liberalen Muslimen, und in der Kommission für den islamischen Religionsunterricht in NRW war er teilweise nicht mehr gelitten. Warum beauftragt das Land NRW nicht einen Lehrstuhl, der weniger Kontroversen ausgelöst hat? Es gibt in und außerhalb von NRW viele Institute, die diesen Auftrag hätten bekommen können.

Sie haben 15 Jahre islamische Religion unterrichtet. Wie fundamentalistisch ticken die Jugendlichen?

Die allerwenigsten 14- oder 16-Jährigen sind überzeugt fundamentalistisch. Echte Fundamentalisten und Menschenfänger finden ihre Anhänger unter religiös Ungebildeten, unter religiösen Analphabeten. Religiöse Bildung im Religionsunterricht kann dazu beitragen, Kinder vor Fundamentalisten zu schützen.