Haus ÖjendorfWie ein Pflegeheim in Hamburg alkoholabhängige Menschen betreut

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Eine Person hält vor ihrem Haus eine Flasche Bier in der Hand (Symbolbild).

Alkoholsucht haben alle Bewohner des Haus Öjendorf gemeinsam (Symbolbild).

Die Bewohnerinnen und Bewohner des Pflegeheims Haus Öjendorf in Hamburg leben am Rand der Gesellschaft. Sie alle haben mit Suchtproblemen zu kämpfen. 

Jens Niemann ruft den Schrittzähler auf seinem Smartphone auf. „Heute bin ich 5,64 Kilometer gelaufen. Montag waren es sogar 11,9 Kilometer“, sagt er stolz und deutet auf das Wochenprotokoll, als müsse er Beweise liefern. Mit seinen 1,83 Metern Körpergröße wiege er zudem mittlerweile 74 Kilo. „Als ich hier angekommen bin, waren es nur 58,2 Kilo.“

Jens Niemann sind diese Zahlen wichtig, denn es gab Zeiten, da bewegte er sich kaum, aß nicht, saß in seiner kleinen Wohnung im Hamburger Portugiesenviertel und „killte die Hausbar“, wie er selbst sagt. Was er auch in die Hände bekam, schüttete er in sich hinein. Darunter ein kleines Holzfass mit schottischem Whiskey. Wie lange er dafür gebraucht habe, soll man erraten. „Ich trank die fünf Liter Whiskey in anderthalb Tagen.“ 

Jobverlust war der Auslöser für den Abstieg

Der 59-Jährige mit Brille und Schnauzbart sitzt in seinem Zimmer im Haus Öjendorf an einem nasskalten Tag Mitte Dezember und erinnert sich an das Jahr, in dem er arbeitslos wurde und alles bergab ging. Jahrelang hatte er als Lkw-Fahrer gearbeitet, war international unterwegs, fuhr zeitweise auch die Tourausrüstung für Peter Maffay oder die norddeutsche Band Santiano durch Deutschland.

Doch 2018 sei er an eine Zeitarbeitsfirma mit unwürdigen Arbeitsbedingungen geraten. „Ich sollte Transporter fahren, deren Bremsen nicht funktionierten, da habe ich mich geweigert.“ Dann sei alles ganz schnell gegangen. Eine Sperre vom Arbeitsamt, Hartz IV, die langjährige Freundin plötzlich weg. „Das war mein Abstieg.“ In Niemanns Version der Geschichte ist der Jobverlust der Auslöser für die Alkoholsucht gewesen. Nicht andersrum.

Ich trank die fünf Liter Whiskey in anderthalb Tagen.
Jens Niemann, Bewohner

Es folgte ein monatelanger Krankenhaus-Aufenthalt, bevor er im Juli 2019 ins Haus Öjendorf des Hamburger Unternehmens „Pflegen und Wohnen“ am östlichen Stadtrand Hamburgs zog. Der Gebäudekomplex befindet sich am Ende einer Schotterpiste, gegenüber gibt es einen Schrebergartenverein. Niemann ist einer der 157 Bewohner. 20 Frauen leben hier, der Rest Männer. Viele sind beim Einzug noch keine 60 Jahre alt. Sie alle eint die Alkoholsucht.

Das Besondere an dem Konzept der Einrichtung: Wer hier einen Platz bekommen möchte, muss nicht abstinent leben oder dies vorhaben, es wäre wohl sogar eher hinderlich. Denn: Hier fließt der Alkohol täglich weiter. Der monatliche Barbetrag von 135 Euro zuzüglich einer Bekleidungspauschale von 25 Euro, eine Leistung der Sozialhilfe, wird von fast allen Bewohnern ausschließlich in Bier, Wein, Schnaps und Nikotin investiert.

Wer nicht selber einkaufen will oder kann, bekommt den Alkohol auf Wunsch vom Personal ausgehändigt. In einem kleinen Raum türmen sich Bierkisten der Marke Oettinger und Wein im Tetrapak. Der offene Umgang mit Alkohol, den das Heim pflegt, sorgt für ein gewisses Image. „Weißt du, wie die uns hier nennen?“, fragt Niemann. „Die Jungs von der Whiskey-Ranch“. Er selbst aber rühre hochprozentigen Alkohol nicht mehr an, trinke nur noch Bier, Wein und Sekt.

Streit ist an der Tagesordnung

In einem Kommentar auf Google fällt der Begriff „Trinkerheilanstalt“, wobei das „Heilen“ nicht stattfinden würde, so die Kritik. Stattdessen würden die Bewohner mit ihren Rollatoren zum nahe gelegenen Discounter pilgern, „um sich mit Stoff zu versorgen“ und „teilweise sabbernd im Vollrausch auf der Parkbank sitzen“, beschwert sich die Verfasserin.

Pflegedienstleiter Andreas Meyer kann über sowas nur den Kopf schütteln. Dass seine volltrunkenen Schützlinge nerven können, wie er selbst sagt, will er nicht abstreiten. Er weiß es nur zu gut. Alkohol-Exzesse und Streitigkeiten zwischen den Bewohnern gehören zur Tagesordnung. „Aber sollen wir die wegsperren?“ Meyer begann 1983 als Altenpfleger im Haus Öjendorf zu arbeiten – und ist bis heute geblieben. „Ich hatte immer eine soziale Ader, fand Randgruppen immer cool und interessant. Eben alles, was aus der Norm fällt.“

In seiner Anfangszeit habe es in Öjendorf noch ein Alkoholverbot gegeben. „Aber dann haben sich die Leute draußen die Kante gegeben und lagen auf der Straße.“ Also wurde ein Pilotprojekt gestartet und das Trinken in der Einrichtung erlaubt. „Die Pflege glaubt immer zu wissen, was für die anderen am besten ist. Das ist ein Problem“, findet Meyer. In seinen mehr als 40 Dienstjahren sah Meyer tausende Alkoholiker kommen und gehen.

Man muss sich klar machen, dass man die Leute hier nicht retten kann.
Oliver Rausch, Sozialarbeiter

Im Schnitt bleiben die Bewohner sieben Jahre. In seinem Büro hängt ein Zettel, auf dem steht: „Nur hübsch sein reicht nicht. Man muss auch Bier trinken können.“ Seinen Humor hier nicht zu verlieren, sei überlebenswichtig, so Meyer. Wer im Haus Öjendorf lebt, zählt zum Rand der Gesellschaft: Stirbt jemand, passen seine Habseligkeiten meist in zwei Kartons. Manchmal auch in eine Plastiktüte. Kaum ein Bewohner hat noch Kontakt zu seiner Familie. „Wir haben kürzlich einen Angehörigentag veranstaltet. Es kamen vier Personen, darunter ein Mann, der gucken wollte, ob sein Vater ihn überhaupt noch erkennt“, sagt Oliver Rausch.

Rausch, der betont, dass sein Name kein Künstlername ist, ist der Sozialarbeiter im Haus Öjendorf und wie Andreas Meyer seit vielen Jahren dabei. Wie er das tagtäglich aushält? „Man muss sich klar machen, dass man die Leute hier nicht retten kann.“ Es kann vorkommen, dass Bewohner tagelang verschwinden, manche auch nie wieder auftauchen. Die meisten wüssten allerdings, dass dieser Ort hier das einzige und letzte ist, was sie noch haben. „Manche sagen, dass sie es hier scheiße finden. Aber sie wissen: Draußen ist es noch beschissener.“

Bewohner Jens Niemann wählt eine mildere Bewertung. „Eigentlich ist es ganz okay hier“, sagt er. Dreimal die Woche arbeitet er in der kleinen Werkstatt des Hauses, verteilt außerdem das Mineralwasser an die Bewohner und hilft beim Säubern der Küchen. Damit ist er einer der wenigen, der regelmäßig mit anpackt. Kaum einer will etwas Verbindliches, schließlich steht die Sucht und das Beschaffen von Alkohol an erster Stelle. Jens Niemann aber helfen die Tätigkeiten, dem Alkohol nicht wieder zu viel Raum in seinem Leben zu geben. „Ein Feierabendbier ist okay, vielleicht auch mal zwei.“ Viel lieber aber zählt er mittlerweile seine Schritte.

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