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Die EU und die UkraineWie Orban kurz vor dem EU-Gipfel für Panik sorgt

Lesezeit 8 Minuten
Kurzer, aber hitziger Austausch in Buenos Aires: Wolodymyr Selenskyj (links) und Viktor Orbán (rechts) bei der Amtseinführung von Präsident Javier Milei.

Kurzer, aber hitziger Austausch in Buenos Aires: Wolodymyr Selenskyj (links) und Viktor Orbán (rechts) bei der Amtseinführung von Präsident Javier Milei.

Viktor Orbán will die Beschlüsse der Union zu Beitrittsverhandlungen und zu neuen Hilfen für Kiew sabotieren. Warum der Ungar diesmal offenbar nicht nur pokern, sondern das Treffen scheitern lassen könnte.

Eine gewisse Anerkennung verdient jene Person, die für die Sitzordnung verantwortlich war. Es gleicht einem diplomatischen Meisterstück, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán bei der Amtseinführung des neuen argentinischen Staatschefs in Buenos Aires in dieselbe Stuhlreihe zu verweisen. Da standen die beiden Politiker also vor dem Beginn der Zeremonie an ihren Plätzen und waren regelrecht gezwungen, miteinander zu sprechen. 20 Sekunden dauerte der hitzige Austausch, den Kameras am Sonntag aus der Ferne einfingen – immerhin mit einem Ein-Mann-Puffer dazwischen.

Später wird Selenskij sagen, er habe „so offen wie möglich“ mit Orbán geredet. Der Ungar wiederum ließ verkünden, er habe dem Präsidenten zu verstehen gegeben, dass die Mitgliedstaaten in der Frage des ukrainischen EU-Beitritts „kontinuierlich“ miteinander diskutierten. Das klingt nach nicht viel, schon gleich nicht nach einem Last-Minute-Einlenken des Autokraten aus Budapest.

Des droht ein Desaster beim EU-Gipfel

Es bahnt sich ein Desaster an, wenn sich ab Donnerstag die 27 Staats- und Regierungschefs zum finalen EU-Gipfel des Jahres treffen. Es sehe „nicht allzu gut aus“, bestätigte ein Diplomat zu Wochenbeginn. Übersetzt heißt das: In Brüssel brennt die Hütte. Ungarn nämlich will die beiden wichtigsten Beschlüsse sabotieren, die auf der Agenda der Partner stehen. Zum einen die Aufnahme förmlicher Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, zum anderen die Freigabe von 50 Milliarden Euro an Hilfsgeldern, um das von Russland angegriffene Land in den nächsten vier Jahren vor dem Kollaps zu bewahren.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba nannte es am Montag „die Mutter aller Entscheidungen“. Er könne sich „die verheerenden Folgen nicht vorstellen, die eintreten werden, wenn der Rat diesen Beschluss nicht fasst“. Würde es Orbán wirklich wagen, seine Partner auf offener Bühne zu brüskieren und die hochgelobte Geschlossenheit beim Thema Ukraine-Unterstützung zu sprengen?

Der autokratische Rechtspopulist weiß, wie man Dramen inszeniert und obwohl die EU-Kollegen einiges an Theater gewohnt sind, herrscht dieses Mal fast Panik. Lässt Orbán den Gipfel scheitern, wäre die EU gelähmt, das Versprechen, Kiew bei der Verteidigung gegen Russland „so lange wie nötig“ beizustehen, hinfällig.

Dabei hätten es die Spitzen vielleicht kommen sehen müssen, im Herbst schon, als der EU-Tross im andalusischen Granada zum Gipfeltreffen einfiel. Zwar polterte und pöbelte Viktor Orbán gegen die Eurokraten, wie Viktor Orbán immer poltert und pöbelt. Und die meisten Staats- und Regierungschefs verdrehten genervt die Augen, wie sie immer genervt die Augen verdrehen.

Wer bei der Roten-Teppich-Tirade an jenem südspanisch heißen Freitagmorgen des 6. Oktober jedoch genauer hinhörte, wurde das Gefühl nicht los: Etwas war anders. Der Ton, die Schärfe, die Kompromisslosigkeit. Da schimpfte der Ungar auf Englisch in den Nachrichtensendungen von Kopenhagen bis Lissabon, sein Land sei „rechtlich vergewaltigt„ worden und dass es für die nächsten Jahre keinerlei Chance mehr auf eine Verständigung in Sachen Solidarität und Migration gebe. Das war selbst für Orbán-Trainierte harter Tobak.

Seit Tagen wird in den Hinterzimmern Brüssels um einen Kompromiss gerungen

Mehr als zwei Monate später deutet vieles darauf hin, dass der Ministerpräsident aus Budapest damals einen Eskalationskurs 2.0 einläutete, der diese Woche zu einem politischen Debakel führen könnte. Selbst erfahrene Diplomaten können es kaum glauben, was derzeit in den Hinterzimmern Brüssels passiert. Täglich bemühen sich die EU-Botschafter der übrigen 26 Mitgliedstaaten mit dem Vertreter aus Budapest, einen Weg aus der Pattsituation zu finden. Bislang ohne Durchbruch. Die Ungarn geben keinen Millimeter nach. Kompromisse? „Nem.“

Es steht viel auf dem Spiel, nicht zuletzt die geopolitische Glaubwürdigkeit der Union. Immerhin hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen „historischen Tag“ gefeiert, als ihre Behörde Anfang November die Aufnahme der Gespräche empfohlen hatte. Es gehe um die „strategische Verantwortung“ für die „langfristige Sicherheit der Ukraine“. Pathos kann die Deutsche, sie sonnte sich seit Kriegsbeginn mit großen Versprechen in den Schlagzeilen. Doch schöne Worte oder Auftritte in blau-gelben Outfits genügen nicht mehr, wenn mit Ungarn Wladimir Putins trojanisches Pferd im Kreis der 27 zu sitzen droht, während die Ukraine mit dem Rücken zur Wand steht.

Russland-Freund Orbán scheint sich derweil im Aufwind zu fühlen, gestärkt durch die jüngsten Siege der Rechtspopulisten Robert Fico in der Slowakei und Geert Wilders in den Niederlanden, die beide ebenfalls weitere Hilfe für die Ukraine ablehnen. „Mit Blick auf die Wahlen im nächsten Jahr hat Orbán den Eindruck, dass es sich politisch in seine Richtung bewegt“, sagt der Europaabgeordnete Daniel Freund. Der Grüne gehört im EU-Parlament dem Club der Umtriebigen in Sachen Rechtsstaatlichkeit an und fordert, dem Ungarn die Folterinstrumente wie die Möglichkeit des Stimmrecht-Entzugs nochmals klar vor Augen zu führen. „Jetzt signalisiert alles: Orbán kontrolliert den Laden“, so Freund. „Es müsste andersherum laufen.“

„Orbánologie“ wird zum beliebten Sport

Noch erschließt sich Insidern nicht, was sich der Nationalist von seiner Totalblockade verspricht. Die Deutung der Aussagen aus Budapest, in Brüssel sprechen sie von Orbánologie, gilt dieser Tage als beliebtester Sport in der EU-Blase. Nun pokert Orbán gerne vor solchen Gipfeln. Zustimmung gegen Geld. Es geht bisweilen zu wie auf einem Basar.

Auch dieses Mal dachten Beobachter zunächst, er wolle lediglich die knapp 28 Milliarden Euro freipressen, die Budapest an Brüsseler Zuschüssen zustehen und deren Auszahlung aktuell wegen Rechtsstaatsverstößen und Korruption gesperrt sind. Dann ließ er die Heimat mit Plakaten bekleben, auf denen seine Fidesz-Partei antisemitische Ressentiments schürt. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird als Marionette des jüdischen Unternehmers Alexander Soros diffamiert.

Es war ein indirekter Mittelfinger in Richtung Brüssel. Hatte Orbán sein eingefrorenes Geld etwa abgehakt? Oder einfach jegliche Hemmungen verloren? Konsequenzen schien der vor Selbstbewusstsein strotzende Politiker jedenfalls keine zu fürchten. Im Gegenteil. Offenbar will die Brüsseler Behörde heute oder morgen zumindest zehn Milliarden Euro überweisen – als Anerkennung der Fortschritte bei Justizreformen.

Dass die Optik, ausgerechnet in diesem Moment Gelder freizugeben, „nicht hilfreich“ ist, geben sie selbst in Brüssel zu. „Ursula von der Leyen lässt sich erpressen und opfert die Demokratie in Ungarn, um die Demokratie in der Ukraine zu retten“, kritisierte der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner, und auch Freund monierte, die Kommission lasse sich „völlig auf der Nase herumtanzen“.

Wie ernst die Lage ist, zeigen die Prä-Gipfel-Rettungsversuche in den vergangenen Wochen. Nachdem Orbán in zwei Briefen an EU-Ratspräsident Charles Michel verlangt hatte, die Hauptbeschlüsse zur Unterstützung der Ukraine von der Agenda des Gipfels zu streichen, sah sich Michel genötigt, den europäischen Chefstörer während eines Besuchs in Budapest auf Linie zu bringen. Vergeblich. Auch der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez versuchte, den Ungarn einzuhegen. Vergeblich. Und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron rollte im Elysée-Palast den roten Teppich zum gemeinsamen Abendessen aus, nur um am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen, wie Orbán die Ukraine als „eines der korruptesten Länder der Welt“ beschimpfte.

Tatsächlich stehen der EU Mittel und Wege zur Verfügung, auch ohne Ungarns Zustimmung über die 50 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten für den Staatshaushalt zu entscheiden. Das zerstrittene Bild nach außen wäre trotzdem katastrophal zu einem Zeitpunkt, an dem ein Zeichen der Solidarität die Moral der Angegriffenen stärken sollte und die Ukraine verzweifelt nach langfristigen finanziellen und militärischen Zusagen sucht.

Geopolitisch waren die Rollen stets klar verteilt, seit Russlands Streitkräfte in die Ukraine einmarschierten. Während die US-Amerikaner militärisch die Führung übernahmen und auch mit Abstand am meisten Waffen und Munition nach Kiew lieferten, bestand der Beitrag der Europäer vorneweg darin, Milliarden an Finanzmitteln bereitzustellen sowie die Integration der Ukraine in die Staatengemeinschaft voranzutreiben. Knapp zwei Jahre nach Kriegsbeginn bröckeln nun alle Hilfspfeiler.

Die einst im breiten parteiübergreifenden Konsens beschlossene Unterstützung hat sich zu einem politischen Druckmittel entwickelt. Dabei würde der Start von Beitrittsverhandlungen Kiew nach einem von Enttäuschungen auf dem Schlachtfeld geprägten Jahr einen politischen Punktsieg über Moskau bescheren. Ohnehin wäre es kaum mehr als eine symbolische Geste des Beistands. Zu viele Bedingungen sind weiterhin unerfüllt, als dass die Gespräche in naher Zukunft beginnen würden.

Im zweiten Halbjahr 2024 übernimmt Ungarn die Präsidentschaft im EU-Rat

Am vergangenen Freitag lud Belgiens Premierminister Alexander de Croo in den Résidence Palace in Brüssel zur Pressekonferenz. Sein Land übernimmt zum 1. Januar turnusgemäß die Präsidentschaft im Rat der EU, dem die Regierungen der 27 Mitgliedsländer angehören. Und während er in der Art-Déco-Kulisse über die Prioritäten dieser sechs Monate redete und das Motto „Schützen, Stärken, Vorbereiten“ zu erklären versuchte, hatten zu seinem Verdruss einige Teilnehmer geistig bereits vorgespult. Denn es ist ausgerechnet Ungarns Regierung, die den Belgiern nachfolgt und im zweiten Halbjahr 2024 dafür verantwortlich ist, die politische und legislative Agenda der Union zu koordinieren und voranzubringen.

Während das EU-Parlament seit Monaten fordert, Orbán den sechsmonatigen Chefposten mit qualifizierter Mehrheit zu entziehen, wird die Option auf Ratsebene laut Diplomaten kaum diskutiert. „Ich bin sicher, dass die Ungarn es gut machen werden – im Interesse aller Europäer“, antwortete auch de Croo auf eine entsprechende Frage. Es handele sich um „eine Präsidentschaft wie jede andere“. Der Belgier erweckte den Anschein, als lebe er in einem Paralleluniversum.

Aber vielleicht fassen seine Aussagen die Situation in der EU recht gut zusammen. Während Orbán das fragile europäische Gerüst zerlegt, scheinen die europäischen Spitzen im Schock erstarrt. Der Ungar sei „eine Wild Card“, meinte ein Diplomat gestern mit Blick auf den Gipfel. Ergo: Alles sei möglich. Ein bisschen klang es wie eine Drohung.