Ethikrats-Mitglied Lob-Huedepohl lehnt grundsätzliche Straffreiheit ab und sieht „Leiden für ungeborenes Leben und Frauen“.
Ethikrats-Mitglied warntSteht das Abtreibungsrecht in Deutschland vor der Liberalisierung?
So schwer sich die Ampelkoalition in vielen zentralen Fragen tut, vom Haushalt bis zu Waffenlieferungen für die Ukraine, so zielstrebig bleibt sie, wenn es um gesellschaftspolitische Umwälzungen geht.
Nicht nur beim Sorgerecht oder im Umgang mit Transpersonen sieht die Bundesregierung Reformbedarf in Deutschland. Nun setzt sie auch das Thema Schwangerschaftsabbrüche auf die Agenda, ein Thema, das in anderen Ländern bereits ganze Wählerschaften nachhaltig gespalten hat, in den USA etwa oder in Polen.
Am Montag wird eine Expertenkommission der Regierung eine Stellungnahme zum Strafrechtsparagrafen 218 vorlegen, der Abtreibungen verbietet. Laut Medienberichten wird das Gremium eine Liberalisierung der Gesetzeslage empfehlen. Bisher sind Schwangerschaftsabbrüche illegal, bleiben innerhalb der ersten zwölf Wochen aber straffrei, wenn sich die betroffene Frau hat beraten lassen.
Folgt eine Grundsatzdebatte?
Die Experten schlagen nun offenbar vor, Abtreibungen grundsätzlich zu erlauben. Wenn das so kommt, dürfte dem Land eine emotionale Grundsatzdebatte bevorstehen, in denen die ganz großen Fragen eine Rolle spielen werden, feministische Anliegen sowieso, aber letztlich auch der uralte Streit darüber, was das eigentlich ist: der Mensch?
Der Berliner Theologe und Mitglied des Deutschen Ethikrates, Andreas Lob-Huedepohl, warnt bereits vor einem Aufschnüren der bisherigen Gesetzeslage. „Wenn mühsam gefundene politische und gesellschaftliche Kompromisse in dieser Frage aufgekündigt werden, wird darunter nicht nur das ungeborene Leben zu leiden haben, sondern am Ende auch Frauen selbst“, sagte er im Gespräch mit unserer Redaktion. Fragen der menschlichen Fortpflanzung seien in der Geschichte immer wieder dazu missbraucht worden, Frauen bestimmte Rollen zuzuweisen. Die bisherige Regelung in Deutschland sei ein „sinnvoller Ausgleich zwischen dem Lebensrecht des Kindes und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau, der nicht zunichte gemacht werden“ sollte.
Tatsächlich liegt hier der Kern des Problems: Ein „Ausgleich“ wird in Sachen Abtreibung immer schwieriger, weil immer mehr Menschen, aber auch manche Forscher, Ethiker, Theologen gar nicht mehr so sicher sind, ob ein „Ausgleich“ überhaupt erforderlich ist.
Schutz der ungeboreren Kinder
Abtreibungsgegner argumentieren ja, das ungeborene Kind habe einen Anspruch auf Schutz, und dieser Anspruch sei mindestens gleichwertig zum Recht der Mutter, über ihren eigenen Körper zu verfügen. Das Argument steht und fällt aber mit der Grundannahme, dass der Embryo tatsächlich bereits ein Kind, ein Mensch, ist.
„Wer Embryonen nur für einen Zellverband hält, der kann kein Verständnis dafür haben, dass das Recht des Embryos auf Schutz moralisch genauso schwer wiegen könnte wie das Recht der Frau auf Selbstbestimmung. Der kann kein moralisches Dilemma sehen“, sagt Lob-Huedepohl, der theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin lehrt.
Genau diese Tendenz sei nicht nur in der Gesellschaft als Ganzer zu spüren. Auch in den modernen Humanwissenschaften gebe es immer lautere Stimmen, die den Beginn menschlichen Lebens nicht bereits für die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle annähmen, sondern erst, wenn der Embryo auch außerhalb des Mutterleibs lebensfähig sei.
„Das ist übrigens auch weltweit eine weit verbreitete Meinung“, sagte Lob-Huedepohl. „Selbst in den großen Weltreligionen gibt es unterschiedliche Auffassungen. Und auch die UN-Kinderrechtskonvention kennt keine pränatalen Kinderrechte.“
Auch im Koalitionsvertrag der Ampel ist von ethischen Dilemmata keine Rede. „Die Möglichkeit zu kostenfreien Schwangerschaftsabbrüchen gehören zu einer verlässlichen Gesundheitsversorgung“, heißt es dort lediglich, und man verspricht: „Wir stellen Versorgungssicherheit her.“ Im Dezember 2021 war das, zu einer Zeit, als die Zahl der Abtreibungen in Deutschland auf einem historischen Tiefstand war. Gleich für das Folgejahr 2022 verzeichnete das Statistische Bundesamt einen Anstieg um fast zehn Prozent auf rund 104000 Schwangerschaftsabbrüche. Vielleicht wertet die Ampel-Koalition das ja als Erfolg.