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Ethikrat-Vorsitzende im InterviewAlena Buyx über die Folgen der Corona-Pandemie – und die Fehler

Lesezeit 7 Minuten
Alena Buyx sitzt vor einem blauen Hintergrund und hat den Kopf zur Seite gedreht und auf einer Hand abgestützt. 

Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates

Im Interview erklärt die 46-Jährige, wie sie mit dem Hass gegen sich zurechtkommt und welche Fehler sie während der Pandemie gemacht hat.

Während der Pandemie war Alena Buyx omnipräsent: In Pressekonferenzen, Talkshows und Interviews bewertete die Vorsitzende des Ethikrates die Anti-Corona-Maßnahmen der Politik. Zum 4. Jahrestag des ersten Corona-Falls in Deutschland am kommenden Samstag erklärt die 46-Jährige im Interview mit Jonas Ernst Koch, wie sie mit dem Hass gegen sich zurechtkommt und welche Fehler sie während der Pandemie gemacht hat.

Frau Buyx, was hat Corona mit uns gemacht?

Die Pandemie war die größte Gesundheitskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine Zeit, in der auch gesellschaftliche Bruchstellen sichtbarer geworden sind, das wirkt bis heute nach.

Was meinen Sie mit „Bruchstellen“?

Es ist deutlich geworden, dass es so etwas wie Wissenschaftsskepsis gibt und das Vertrauen in Regierungsinstitutionen und staatliche Stellen stark abgenommen hat. Das ist messbar. Das heißt aber nicht, dass der viel besprochene gesellschaftliche Zusammenhalt jetzt weg ist. Wir sind auch als Gesellschaft nicht „gespalten“. Aber wir haben Spaltungsphänomene, die sich weiter fortsetzen.

Das klingt sehr theoretisch: Wo liegt der Unterschied?

Für die Antidemokraten war die Corona-Krise ein Verstärkungspunkt, in der bestimmte verschwörungsideologische Erzählungen teils ganz bewusst von Verschwörungsunternehmern für ihren eigenen Vorteil genutzt wurden. Die Krise ist auch von Demokratieskeptikern ausgenutzt worden, die ganz gezielt versuchen, das Vertrauen in den Staat zu erschüttern, mit dem Ziel, die Demokratie zu schwächen. Aber die Antidemokraten sind trotzdem nur eine Minderheit geblieben, das dürfen wir nie vergessen.

Ist die Zeit der Verschwörungsideologen denn jetzt vorbei?

Oh nein, man sieht: Das setzt sich fort und ist mit dem Ende der Pandemie nicht erledigt. Mit der Corona-Krise ging es los, jetzt sind es der Ukraine-Krieg bis hin zu Energie- und Klimakrise und den anderen Krisen, etwa die hohe Inflation, die wir derzeit noch so haben.

Sie haben während der Pandemie vehement versucht, dem entgegenzutreten und der Bevölkerung die ethischen Zwickmühlen zu erklären. Waren Sie darin erfolgreich?

Ich hab es zumindest versucht. Aber man muss da bescheiden sein. Ein Interview mit mir während der Pandemie hatte mal die Schlagzeile „Ethik passt nicht in den 20-sekündigen O-Ton“. Die Abwägungsentscheidungen auf der politischen Ebene waren unglaublich komplex und detailliert. Als Ethikern weiß ich, bin ich mit der Struktur solcher Abwägungen vertraut. Aber sie zu erklären, ist manchmal wirklich schwierig. Zum deswegen, weil es eben unterschiedliche Wege gab, die ethisch gesehen gleich gut begründbar waren, das habe ich immer versucht, zu betonen. Und zum anderen ist oft auch gar nicht durchgedrungen, wie schwierig die Abwägung eigentlich ist, wenn man überlegt, wer kriegt eigentlich als erstes den knappen Impfstoff, oder ähnliche Fragen. Was man da alles mitbedenken muss, ist furchtbar komplex. Manchmal denke ich, das ist schon wieder vergessen.

Und heute wissen alle genau, was zu tun gewesen wäre.

Klar, alle wissen heute ganz genau, was zu tun gewesen wäre. Ich verstehe das auch, mir geht das auch so, das ist ein ganz natürlicher psychologischer Reflex. Aber es ist natürlich oft grundfalsch. Die Abwägungen waren extrem schwierig und wurden vor allem von vorne getroffen, nicht im Rückblick.

Hätten Sie da manchmal auch gerne einfach selbst entschieden?

Ich war sehr froh, dass ich in dieser Zeit nur beraten habe. Mal erfolgreicher, mal nicht. Ich will meine Rolle nicht überhöhen und auch nicht die des Ethikrates. Zumal wir ja auch zum Teil zu gespaltenen Voten gekommen sind. Wir haben ja abgebildet, wie schwierig die Abwägungen waren. Meist ist es uns gelungen, uns zusammenzuraufen, was ich immer für einen echten Erfolg gehalten habe. Aber in der Stellungnahme zur Immunitätsbescheinigung beispielsweise war die Abstimmung 50:50 gespalten. Das gab es noch nie in der Geschichte des Ethikrates! Wir haben die gesellschaftlichen Konflikte also ein Stück weit abgebildet. Das Gremium, das sich damit beschäftigen soll, sagte im Grunde: Wir schaffen es hierzu nicht, uns zu einigen – das zeigt doch, wie herausfordernd diese Fragen und Entscheidungen waren.

Glauben Sie, das ist durchgedrungen?

Schauen Sie sich mal die ganzen Clips an, die von mir jetzt durchs Internet wabern. Vieles davon wird auch bösartig verwendet, nämlich sehr einseitig. Dabei habe ich durchaus versucht, das „einerseits-andererseits“ darzustellen.

Wie gehen Sie mit den Shitstorms um?

Man geht da durch ein Tal, und dann gewöhnt man sich daran. Das gehört heute zu einer öffentlichen Rolle leider eben dazu und es gibt ja auch viele andere, die haben das viel schlimmer und auch schon viel länger. Mit denen tausche ich mich aus und lerne, damit umzugehen. Ich lese das selbst übrigens nicht und halte mich davon fern.

Aber Sie haben sicherlich auch nicht alles richtig gemacht?

Das kann ja niemand von sich wirklich sagen. Ich bekomme diese Frage häufig gestellt, deswegen habe ich darüber ausführlich nachgedacht und dazu schon öffentlich einiges gesagt. Wir bedauern es beispielsweise sehr, dass wir die junge Generation zu wenig in den Blick genommen haben. Ich bin zwar damals in Talkshows gewesen und habe unterstrichen: „Wir müssen an die Kinder und Jugendlichen denken! Die sitzen noch hinter der Glasscheibe und die anderen feiern schon wieder.“ Aber wir haben es versäumt, eine schriftliche Stellungnahme dazu zu machen und eine konkrete Empfehlung zu formulieren. Das bedauern wir zutiefst. Das hätten wir machen sollen.

Was genau hätten Sie denn empfohlen?

Wir haben ja den Umgang mit den Hochbetagten gerügt. Da war einiges sehr problematisch, was da 2020 passiert ist: Etwa die sehr lange Isolation haben wir kritisiert. Eine solche Veröffentlichung hätten wir zu den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch machen sollen. Wir haben das dann nachgeholt, und ein paar hundert Schüler eingeladen und uns ihre Pandemie-Erfahrungen erklären lassen und daraufhin dann eine Empfehlung zur psychischen Gesundheit veröffentlicht. Aber das war zu spät.

Glauben Sie, das Thema Pandemie wird nochmal relevant?

Ich hoffe, dass wir aus der Pandemie gelernt haben. Wir vom Ethikrat haben eine große Stellungnahme mit einer Rückschau auf die Zeit veröffentlicht und Lehren aus der Pandemie gezogen. Gleichzeitig sehe ich, dass wir als Gesellschaft noch mehr lernen müssen, was unsere kritische Infrastruktur angeht, unseren Umgang mit Daten, gesellschaftlicher Zusammenhalt und so weiter - das sind alles Themen, die bleiben. Auch bei den konkreten Lehren für unser Gesundheitssystem wünsche ich mir noch viel mehr. Corona an sich wird aber wohl zukünftig ein Erreger unter vielen sein.

Also ist das Thema endgültig vorbei?

Die Leute, für die das empfohlen ist, sollten sich mal wieder impfen lassen. Ein harmloser Schnupfen ist es ja nicht für die, die anfällig sind.

Dank der Impfungen?

Die Impfung hat uns, mit Verlaub, allen den Hintern gerettet. Das ist eine große Menschheitsleistung, dass das gelungen ist. Ich bin da sehr dankbar, auch ganz persönlich, weil ich weiß, dass viele meiner Lieben dadurch geschützt waren.

Hat das Vertrauen in Impfungen seit der Pandemie gelitten?

Leider gibt es da Hinweise. Sie können sich vorstellen, dass ich als Medizinerin ein großer Fan von Impfungen bin: Sie machen etwas mit niedrigen Risiken und verhindern etwas mit viel größeren Risiken. Was soll man daran nicht lieben? Aber ich hoffe, dass diese sehr polarisierenden Meinungen, die auch von Antidemokraten und Wissenschaftsfeinden bewusst ausgenutzt wurden, dass die keinen allzu starken Effekt auf die generelle Bewertung von Impfungen haben werden.


Zur Person

Die Medizinethikerin Alena Buyx ist wohl fast jedem Deutschen bekannt: Während der Pandemie war die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates und Mitglied im Corona-Expertenrat auf allen Kanälen präsent und versuchte, der Bevölkerung die ethisch schwierige Abwägung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung einerseits und demokratischen Freiheitsrechten andererseits zu vermitteln.Die 46-jährige Buyx ist Hochschullehrerin an der Technischen Universität München mit einer Professur für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien und leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der TUM als Direktorin. Für ihre Arbeit während der Pandemie wurde Buyx unter anderem mit dem Bayrischen Verdienstorden und dem Deutschen Nationalpreis geehrt.