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Düsseldorfs Ex-OB im Interview„Sahra Wagenknecht ist eine sehr kluge und glaubwürdige Politikerin“

Lesezeit 5 Minuten
08.01.2024, Berlin: Thomas Geisel, ehemaliger SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf, äußert sich bei der Vorstellung der Partei "Bündnis Sahra Wagenknecht - für Vernunft und Gerechtigkeit" (BSW) in der Bundespressekonferenz.

Kehrt der SPD nach vier Jahrzehnten den Rücken zu: Thomas Geisel.

„Deutschland befindet sich in einem schlechten Zustand“, sagt Thomas Geisel. Das bezieht der frühere Oberbürgermeister unter anderem auf die Migrationspolitik der SPD, der er lange angehörte. Nun will er für das BSW ins Europaparlament.

Er war 40 Jahre in der SPD und von 2014 bis 2020 Oberbürgermeister von Düsseldorf. Nun hat Thomas Geisel mit seiner alten Partei gebrochen und sich dem „Bündnis Sahra Wagenknecht“ angeschlossen. Warum hat ihn gerade die Asylpolitik zum Wechsel bewegt? Darüber spricht der 60-Jährige im Interview mit Leon Grupe.

Herr Geisel, unter Sozialdemokraten heißt es, Sie hätten sich aus Langeweile etwas Neues gesucht.

Wer so was sagt, möchte sich mit Inhalten offenbar nicht beschäftigen. In meinem Schreiben an meine ehemaligen Genossinnen und Genossen habe ich erklärt, was mich zu diesem Schritt motiviert hat. Übrigens bin ich auch nach meiner Zeit als Oberbürgermeister gut beschäftigt gewesen. Jetzt freue ich mich aber auf die Möglichkeit, politisch wieder etwas bewirken zu können.

Den Wechsel ins „Bündnis Sahra Wagenknecht“ erklären Sie unter anderem mit der Flüchtlingspolitik der SPD, die seit Jahrzehnten eine „ideologisch getriebene Politik der Realitätsverweigerung“ sei. Das müssen Sie erklären.

Vorweg will ich eines klarstellen: Wir sind ein zivilisiertes Land, das auch aufgrund seiner Geschichte politisch Verfolgten Asyl gewähren will und muss. Aber so, wie das Asylrecht in Deutschland praktiziert wird, ist es zu einem Instrument unkontrollierter und unkontrollierbarer Zuwanderung geworden. Obwohl nur etwa ein Prozent der Antragsteller als politisch Verfolgte anerkannt werden, haben alle einen Anspruch auf ein Verfahren. Dies dauert in der Regel sieben bis achtzehn Monate. In dieser Zeit haben sie Anspruch auf Unterbringung und Versorgung. Danach ist es erfahrungsgemäß schwierig, manchmal unmöglich und nicht selten unmenschlich, diejenigen abzuschieben, die ausreisepflichtig sind.

Wo ist die von Ihnen kritisierte Ideologie?

Seit Jahrzehnten gibt es die Haltung in der SPD: Wer das Asylrecht, so wie es aktuell ausgestaltet ist, ändern möchte, versündigt sich am humanitären Anspruch des Grundgesetzes. Diesem Anspruch werden wir aber schon lange nicht mehr gerecht. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es neben den politisch Verfolgten, die allein asylberechtigt sind, auch andere Flüchtlinge – Bürgerkriegsflüchtlinge, Klimaflüchtlinge, Armutsflüchtlinge – gibt, die ebenfalls schutzbedürftig sind. Wenn wir es mit der Humanität ernst meinen, sollten auch sie Schutz genießen. Wir können aber natürlich nicht alle aufnehmen, sondern eben nur so viele, wie unser Land und insbesondere unsere Kommunen in der Lage sind zu integrieren. Und da sind wir vielerorts am Limit.

Aber die SPD tut doch was. Bundesinnenministerin Nancy Faeser geht mit stationären Grenzkontrollen gegen illegale Einreisen vor, der Kanzler will konsequenter abschieben. Zudem hat sich die EU darauf verständigt, das Asylrecht deutlich zu verschärfen.

Die europäische Asylrechtsreform geht in die richtige Richtung. Es ist sinnvoll, Asylverfahren an die Außengrenzen zu verlagern. Ob die stationären Grenzkontrollen tatsächlich Wirkung zeigen, kann ich nicht beurteilen.

Wie würde für Sie eine gelungene Migrationspolitik aussehen?

Wegen des demografischen Wandels und des daraus resultierenden Arbeitskräftemangels sind wir in gewissem Umfang auf Zuwanderung angewiesen. Ein modernes Zuwanderungsrecht darf sich aber nicht nur an Nützlichkeitskritierien, sondern sollte sich auch an humanitären Gesichtspunkten orientieren. Wie viele Menschen wir aufnehmen können, richtet sich danach, wie wir sie integrieren und zum Teil unserer Gesellschaft machen können. Ansonsten bilden sich Parallelgesellschaften. So kann ein Sozialstaat nicht funktionieren.

Nach der Rhetorik Ihrer Parteichefin ist das Bündnis eine „Wir hier unten gegen die da oben“-Partei. Wieso glauben Sie, dass die regierenden Parteien die Probleme des Landes nicht lösen können?

Von Ihrer Zuschreibung halte ich nichts. Aber es ist ja unstreitig: Deutschland befindet sich in einem schlechten Zustand. In vielen Bereichen ist unser Land ein Sanierungsfall geworden. Schauen Sie sich nur unsere Infrastruktur in den Bereichen Verkehr, Energie, Digitalisierung an. Das öffentliche Bildungswesen ist mittlerweile in einem Zustand, der Chancengleichheit und soziale Durchlässigkeit kaum mehr ermöglicht. Das sind Themen, die Deutschland einst stark gemacht haben, aber in letzter Zeit extrem vernachlässigt wurden. Hier setzt unsere Partei an, und ich bin überzeugt, dass wir damit vielen Wählern aus dem Herzen sprechen.

Es gibt noch nicht mal ein Parteiprogramm.

Wir sind ja auch noch am Anfang und noch nicht in der Regierung. Immerhin haben wir die Probleme zutreffend diagnostiziert. Eine gute Diagnose ist die Voraussetzung für die richtige Therapie.

Alles ist auf Frau Wagenknecht ausgerichtet. Nicht nur der Parteiname, sie greift auch nach dem Parteivorsitz. Haben Sie keine Angst, in ihrem Schatten zu bleiben?

Nein, habe ich nicht (lacht). Sahra Wagenknecht ist eine sehr kluge und glaubwürdige Politikerin. Ich stehe gerne an ihrer Seite.

Mit dem ehemaligen Linkenpolitiker Fabio De Masi kandidieren Sie als Spitzenduo für die Europawahl. Was wollen Sie in Brüssel erreichen?

Europa ist umso stärker, je mehr es sich auf seine Kernaufgaben konzentriert. Dazu gehören faire Marktbedingungen. Die Macht von marktbeherrschenden Unternehmen wie Google und Amazon muss begrenzt werden. Steueroasen gehören ausgetrocknet. Es sollte europaweit vergleichbare Grundsätze der Unternehmensbesteuerung und soziale Standards geben. Und Europa sollte sich wieder auf das Subsidiaritätsprinzip besinnen, also auf die Themen und Aufgaben, die die Mitgliedstaaten und ihre Länder und Kommunen nicht selbst regeln können. Dieser Grundsatz wird häufig verletzt.

Nämlich?

Viele Regelungen aus Brüssel sind schlicht verzichtbar. Und ein erheblicher Teil des Geldes, das in Brüssel verteilt wird, würde effizienter eingesetzt, wenn die Mitgliedstaaten, die Länder und Provinzen oder die Kommunen direkt darüber verfügen könnten. Als Kommunalpolitiker kann ich ein Lied davon singen. Müssen wirklich Sachen wie die Mindesthöhe von Brückengeländern über Wasserläufen zentimetergenau vorgegeben werden? Derlei Regelungswut fördert mit Sicherheit nicht die Identifikation mit Europa und den Institutionen der EU.

Gibt es Pläne, welcher Fraktion im EU-Parlament Sie beitreten werden?

Diese Frage habe ich mir noch nicht gestellt. Erstmal warten wir das Wahlergebnis im Juni ab. Wir sollten das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt ist. Eine Fraktion im Europaparlament erfordert Bündnispartner aus sieben Mitgliedsstaaten. Das ist eine hohe Hürde. Wir erhalten aber bereits einige Gesprächsanfragen aus dem Europaparlament. Aber wir überstürzen da nichts. Eine Fraktion muss ja über Inhalte definiert sein. Erst einmal wollen wir die Wählerinnen und Wähler überzeugen.