Das Mizwa-Mobil ist einzigartig in Deutschland. Am Steuer sitzt ein junger Rabbiner. Seine Botschaft: "Wenn die Menschen sich nicht trauen, eine Synagoge zu besuchen, kommen wir zu ihnen."
Die rollende Synagoge"Wir stehen für das Positive im Leben"
Die Sonne ist gerade untergegangen, als das Mizwa Mobil langsam auf den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor fährt. Der Polizeischutz wartet schon. Der Citroen-Transporter hält zwischen dem Weihnachtsbaum und der Menora. Die hintere Seitentür öffnet sich, ein mittelgroßer Mann mit Kippa, schwarzen Mantel, grünem Schal und gekräuseltem Bart tritt ins Freie. In der einen Hand trägt er einen Lautsprecher, in der anderen hält er eine große Box mit 40 Stück Sufganiyot, einem krapfenartigen Gebäck.
Unter den neugierigen Blicken der Passanten läuft Mendel Brandwine auf die weiße Chanukkia im Herzen der Hauptstadt zu. Der achtarmige Leuchter ist der größte in Europa, eines der sichtbarsten Symbole für das Judentum in Deutschland. In der Adventszeit wird er anlässlich von Chanukka erleuchtet, dem jüdischen Lichterfest. Für acht Tage, bis zum 15. Dezember, feierten es gläubige Juden in aller Welt. Jeden Tag wird dabei ein weiteres Licht auf dem Leuchter entzündet.
Die Menora wird rot angestrahlt, Passanten fotografieren für Instagram
Brandwine steigt auf das Podest, öffnet einen Sicherheitskasten, dreht einen Schlüssel, kippt ein paar Schalter. Scheinwerfer hüllen die Menora in ein rotes Licht, der Davidstern auf halber Höhe beginnt zu funkeln, das siebte Licht erstrahlt. Die Passanten zücken ihre Handys, machen Fotos, Videos für TikTok und Instagram.
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Während sein Kollege, der Rabbiner David Theichtal, einen Segensspruch durch ein Mikrofon aufsagt, verteilt Brandwine die Sufganiyot. Nicht alle greifen zu. Ein Polizist will wissen, was es mit den Backwaren auf sich hat. „Sie werden in Öl frittiert“, sagt Brandwine, der nur Englisch und Hebräisch spricht. „An Chanukka spielt Öl eine große Rolle.“ Der Beamte runzelt die Stirn.
Brandwine erzählt die Geschichte, wonach im zweiten Jahrhundert vor Christus die Makkabäer den zerstörten Tempel in Jerusalem zurückeroberten. Wie sie ein Fläschchen Lampenöl fanden, das an sich nur für eine Nacht reichte. Am Ende habe es acht Tage lang gebrannt. „Ein Wunder!“ Der Polizist nickt. Er macht nicht den Eindruck, als habe er das verstanden.
Mendel Brandwine wurde vor 25 Jahren in Iowa geboren. Der Sohn eines koscheren Fleischers und einer Lehrerin hat in New York gelebt, in Israel und in Taiwan. Mit seiner Ehefrau ist er im vergangenen Jahr nach Berlin gezogen, weil er hier andere Rabbiner kannte und weil hier viele Juden wohnen. Um die 40000, so wird es geschätzt.
Seit März fährt Brandwine mehrmals die Woche mit dem Mizwa Mobil durch Berlin. Oft hält er vor dem Brandenburger Tor, auch mal vor einem koscheren Supermarkt in Charlottenburg. Auch in Potsdam und Hamburg war er schon. Anders als in den USA, wo es solche rollenden Synagogen bereits gibt, ist das Mizwa Mobil ein einzigartiges Projekt in Deutschland. Die Einrichtung: eine gepolsterte Sitzecke, in der Mitte ein Tisch, ein Fernseher an der Wand. Im Schrank die Torarolle, in den Regalen Kippot und die Siddur, das jüdische Gebetbuch. Das Fahrzeug soll Andachtsraum sein, aber auch Austausch und Aufklärung ermöglichen.
Als Wanderprediger, der andere missionieren möchte, sieht sich Brandwine nicht. „Viele Menschen trauen sich nicht, eine Synagoge zu besuchen“, sagt er. „Also kommen wir zu ihnen.“ Mit einem niedrigschwelligen Angebot wolle man Berührungsängste und Vorurteile abbauen. Kurzum: Sie wollen jüdisches Leben sichtbarer machen.
Können seine Touren auch etwas im Kampf gegen Antisemitismus bewirken? Brandwine hält kurz inne. „Wenn es hilft, warum nicht“, sagt er dann. Er hat sich mit der Frage offenbar noch nicht beschäftigt. Das oberste Ziel bleibe dennoch, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. „Wir wollen alle möglichen Menschen inspirieren, Juden und Nichtjuden, Gläubige und Nichtgläubige.“
Initiiert hat das Projekt die Gemeinde Chabad-Lubawitsch, benannt nach der gleichnamigen Bewegung, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstand. Heute hat die Organisation ihre Zentrale in New York. Sie besteht aus zahlreichen orthodoxen bis ultraorthodoxen Gemeinschaften, die ihre eigenen Traditionen pflegen. Die Gemeinde in Berlin betont dennoch, weltoffen zu sein.
Die Sicherheitslage ist interessanter als das Thema jüdische Kultur
„Unsere Veranstaltungen können alle Menschen besuchen, nicht nur Gemeindemitglieder“, sagt Jessica Kalmanovich, die sich bei Chabad um die Öffentlichkeitsarbeit kümmert. Die Mitgliederzahl liege bei 3000, man sei die am schnellsten wachsende jüdische Gemeinde Berlins. „Und wir stehen für Optimismus und das Positive im Leben.“
Auf der Seitenwand das Mizwa Mobils steht: „Auf dem Weg, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ An diesem Nachmittag betet niemand in der rollenden Synagoge. Die Menschen vor dem Brandenburger Tor scheinen das Fahrzeug nicht großartig wahrzunehmen. Dafür entwickeln sich Gespräche zwischen Mendel Brandwine und den Passanten. Das Gebäck-Angebot beweist sich als wirkungsvoller Eisbrecher. Doch in der Regel bleibt es bei Smalltalk, über jüdische Kultur wollen die Leute nicht sprechen. Ein anderes Thema ist interessanter: die Lage und Sicherheit der Juden in Deutschland.
Ein Mann aus Chicago fragt, wie es sich als Jude in Berlin lebe, in diesen „crazy times“. Momentan sei es nicht so einfach, sagt Brandwine. „Deshalb müssen wir das Gute in die Welt bringen.“ Es ist einer von vielen Momenten, in denen man spürt, wie sehr der Glaube dem Gelehrten Halt gibt, wie stark seine Haltung von Gott beeinflusst wird.
Wie denkt er über die Situation in Israel und den Nahost-Krieg? „Die Augen Gottes sind auf Israel gerichtet.“ Es sei doch ein Wunder, dass Israel trotz aller Kriege, Angriffe und Feinde in der Region weiter existiere. Auch das Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ ist für den Geistlichen ein „miracle“.
Fühlt er sich unsicher, seitdem eine neue Welle des Antisemitismus das Land erfasst hat, die Zahl der judenfeindlichen Übergriffe auf 29 pro Tag gestiegen ist? In der heiligen Schrift steht, sagt er: „Dem Boten der guten Taten wird kein Leid zugefügt.“
Nach gut einer Stunde, Mendel Brandwine und seine Kollegen haben die Lichter der Menora gerade ausgeschaltet, die Box mit dem Gebäck ist leer, kommt eine Gruppe arabischer Männer und Frauen auf sie zu. Ein Polizist stellt sich dazu, er wirkt angespannt. Droht eine Auseinandersetzung?
Schnell kommt heraus, es handelt sich um arabische Israelis, Mitglieder einer zionistischen Jugendbewegung, die sich Atidna nennt. Im Arabischen bedeutet das „unsere Zukunft“. Auf Hebräisch fragen sie Brandwine, ob er den Chanukka-Leuchter noch mal anschalten könnte. Dann positioniert sich die Gruppe in einem Halbkreis. Sie haben die israelische Flagge dabei und Transparente. Darauf steht: „Ich bin stolz, ein Araber zu sein“ und „Ich bin stolz, ein Israeli zu sein“.
Kurz darauf verlässt das Mizwa Mobil den Pariser Platz. Der Fahrer, ein Ukrainer, der vor den russischen Invasoren geflohen ist, steuert den umgebauten Lieferwagen durch das dunkle Berlin. Trotz des geringen Interesse an dem rollenden Gebetsraum ist Brandwine zufrieden: „Wenn ich ein gutes Wort mit jemandem teile, habe ich etwas erreicht. Das ermutigt mich, weiterzumachen.“
Mit im Wagen sitzt Yaanki Goldhaber, ein Bekannter der Rabbiner. Der 20-jährige Israeli lebt in Bnei Berak, die auch als Hauptstadt der Ultraorthodoxen bezeichnet wird. Er ist für ein paar Tage nach Berlin geflogen. Eine kurze Auszeit vom permanenten Sirenengeheul. Um seinen Hals hängt ein Anhänger aus Metall. „Bring them home“ steht darauf. Die Aufforderung an Israels Regierung, die Geiseln aus Gaza zurückzuholen. Bald muss Goldhaber zurück, in zwei Monaten beginnt seine Wehrpflicht. Hat er Angst? Er schüttelt den Kopf. „Ich bin stolz, meinem Heimatland zu dienen“, sagt er mit Nachdruck.