Mit einer Mischung aus emotionaler Ausstrahlung, klaren Worten und einer neuen Taktik hat er die deutsche Mannschaft wieder ins Rampenlicht gerückt.
Deutscher BundestrainerWie Julian Nagelsmann die Herzen der deutschen Fußballfans erobert
Wer Julian Nagelsmann Detailfragen zu Taktik, Aufstellung oder Gegneranalyse stellt, der bekommt keine Phrasen zu hören, kein plumpes Vertrösten, keine nichtssagende Worthülse. Der Bundestrainer nimmt sich Zeit und erklärt mit großer Eloquenz. Lange dauern seine Ausführungen trotzdem nicht, denn er spricht sehr schnell. Mit etwas Fußfallfachwissen ist es dennoch nicht schwer ihm zu folgen.
Transparenz ist ein Punkt, mit dem Nagelsmann in nicht mal einem Dreivierteljahr viele Skeptiker auf seine Seite gezogen hat. Offene Worte wären natürlich nichts wert, wenn der Erfolg ausbliebe. Aber nach dem Doppel-Nackenschlag im November mit Niederlagen gegen Österreich und die Türkei hat es der Coach geschafft, die DFB-Elf nicht nur zu stabilisieren, sondern ihr auch in nicht für möglich gehaltener Geschwindigkeit neue Sympathien zuzuführen. In acht Partien des Jahres 2024 blieb das Team unbesiegt – ehe am Freitag Spanien kam.
Das Aus im Viertelfinale war zugleich der Moment für erste Bilanzen. Oft war zu hören: „Wir sind wieder wer.“ Nach drei Turnier-Enttäuschungen, nach denen die Vorgänger Joachim Löw und Hansi Flick schwer in die Kritik gerieten, geht Nagelsmann gestärkt aus der Heim-EM hervor. Die Emotionen am Spielfeldrand, etwa nach dem 2:0 durch Jamal Musiala im Achtelfinale, gegen Dänemark kommen an.
Noch mehr Pluspunkte sammelte er aber durch die Worte, die er in den Stunden nach dem Abpfiff wählte. Ja, den verweigerten Handelfmeter musste er thematisieren. Doch zugleich ließ er erkennen, wie sehr ihm die Mannschaft und alle, die mit ihr verbunden sind, ans Herz gewachsen sind. Die Stimme stockte, die Augen wurden feucht. Deutschland nahm ihm das ab.
Inwiefern sein Wunsch, dass sich die nationale Einigkeit und der Gemeinschaftssinn während der drei Wochen in den Alltag übertragen lassen, realistisch ist, wird die Zeit zeigen. Aber dass Nagelsmann den Moment, als flächendeckend alle Augen im Land auf ihn gerichtet waren, auch zum Appell für ein besseres Miteinander, für mehr Zuversicht und weniger Pessimismus nutzte, beeindruckte viel. „Es ist wichtig zu realisieren, in welch schönem Land wir leben, landschaftlich und kulturell. Was wir für Möglichkeiten haben, wenn wir alle zusammenhalten und nicht alles extrem schwarzmalen“, sagte er. Ein Text, der bewegte.
Nagelsmann: Das neue Gesicht des DFB
Da blieb auch Rudi Völler im Vergleich eher blass. Was dem Sportdirektor, wenn man seinen Aussagen glaubt, sogar sehr recht war. Eigentlich war er im Frühjahr 2023 geholt worden, um die Leute wieder an die deutsche Mannschaft zu binden, Gleichgültigkeit zu bekämpfen. Der Publikumsliebling als mildernder Faktor. Auch und gerade, wenn es nicht läuft. Doch seit Nageslmann da ist und gewinnt, ist die Präsenz von „Tante Käthe“ nur noch sehr dosiert gefragt. Das DFB-Gesicht trägt nun ein anderer.
Nagelsmann ist nicht ohne Fehler. Gegen die Spanier setzte er zur Überraschung vieler auf Emre Can und vor allem auf Leroy Sané, diese Idee revidierte er aber zur Pause. Seine ersten zwei Länderspiel-Abstellungsphasen waren noch geprägt von Experimenten. Als diese Herangehensweise, die auch schon Flick zum Verhängnis wurde, ins Verderben zu führen drohte, vollzog er die 180-Grad-Drehung. Im März nominierte er ein Aufgebot, das sich nur marginal vom späteren EM-Kader unterschied. Auch die Wunschelf war seitdem ein offenes Geheimnis. Verlässlichkeit als Trumpf. Wer zur zweiten Reihe zählte, wurde explizit auf seine Rolle vorbereitet. Und die nahm jeder an. Bis auf Robin Koch kamen alle 23 Feldspieler zu mindestens einem Kurzeinsatz, die Chemie passte. Die Auswahl der Akteure wurde bewusst auch nach diesen Kriterien getroffen. Zulasten von Mats Hummels oder Leon Goretzka, die sportlich dazugehört hätten, aber vielleicht nicht gern Reservist gewesen wären.
Auch Sandro Wagner ist Teil des Erfolgs
Nicht zu vergessen: Der als Profi polarisierende und danach als TV-Experte und Trainerhoffnung gefeierte Sandro Wagner war in den vergangenen Monaten ein wichtiger Faktor an der Seite des Chefcoaches. Weil er vielleicht die Spielersicht noch sehr in sich trägt, weil er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält, als ehrlich und authentisch gilt. Ob er Assistent bleibt, ist noch offen. Ihm sollen zahlreiche Angebote aus dem Vereinsfußball vorliegen.
Nun ist Nagelsmann nicht Europameister geworden, doch seine Entscheidungen stellt niemand in Frage. Denn er trat glaubwürdig auf, strahlte trotz seines jungen Alters Lebenserfahrung aus.
Sein Vertrag läuft bis 2026. Nationalmannschaften planen in aller Regel in Zweijahreszyklen. Die WM in Nordamerika, wenn auch ohne den einen oder anderen Routinier, ist nun der Fixpunkt, an dem sich der Verband orientiert. Ob Nagelsmann darüber hinaus an Bord bleibt, ob er womöglich gar eine Ära prägen kann, ist daher eine verfrühte Frage. Zumal sich ihm garantiert jederzeit andere (Verdienst-)Optionen bei namhaften Clubs bieten werden.
Aber wie er und seine Mitstreiter im Eiltempo aus einer maroden Truppe, der allenfalls die theoretische Klasse des Einzelnen Hoffnung gab, ein Ensemble mit blühender Perspektive geschaffen haben, ist schon jetzt ein einmaliger Vorgang. Zweifel am Bundestrainer – sind für den Moment und damit erstmals seit Jahren nicht existent.