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DekolonisationSioux-Chef bringt Rezepte der indigenen Amerikaner auf den Tisch

Lesezeit 4 Minuten
Sean Sherman läuft über eine Wiese und erntet Kräuter.

Sean Sherman kombiniert in seinen Rezepten in seinen Rezepten Naturkunde und Tradition seiner indigenen Volksgruppe.

Zum ersten Mal ist in der nordamerikanischen Haute Cuisine auch die Küche vertreten, die auf diesem Kontinent entstanden ist – nach 500 Jahren der Unterdrückung.

Eichelschrotmehl, Würzasche aus Salbei und Wacholder, Blätter vom Riesen-Lebensbaum: Spitzenkoch Sean Sherman kocht mit Zutaten, von denen die meisten nicht mal ahnen, dass man sie essen kann. Der Sioux aus dem Stamm der Oglala-Lakota hat die Küche seiner Ahnen zurück auf Amerikas Speisekarte gebracht. Und das auf höchstem Niveau.

Erst macht sein Kochbuch „Der Sioux Chef“ Furore, das jetzt auch auf Deutsch erscheint (Kanon Verlag, 232 Seiten, 34 Euro). Dann eröffnet er in Minneapolis das Restaurant Owamni. Beide werden von der renommierten James Beard Foundation ausgezeichnet. Eine Revolution: Zum ersten Mal ist in der nordamerikanischen Haute Cuisine auch die Küche vertreten, die auf diesem Kontinent entstanden ist – nach 500 Jahren der Unterdrückung.

Was Sherman leistet, ist nicht nur die Weitergabe einer großen Tradition. Zuallererst ist es auch ihre Rückeroberung. „Wir Lakota-Sioux haben bis in die 1890er gegen Regierungstruppen gekämpft. Das ist nicht lange her; aber in diesem Jahrhundert haben wir viel von unserer Essenskultur verloren“, sagt Sherman in Berlin, wo er gerade sein Buch vorgestellt hat. „Die Generation meines Urgroßvaters hatte noch den vollen Zugang zu den indigenen Traditionen.“

Auch kulinarisch ausgegrenzt

Dann gingen sie rapide verloren: Auf den Landraub und die Morde des 19. Jahrhunderts folgten Jahrzehnte der kulturellen Ausgrenzung. Als Sherman 1974 geboren wird, bestimmt die US-Regierung, was auf den Tisch kommt. Der Koch wächst im Pine-Ridge-Reservat in South Dakota auf. „In meiner Kindheit gab es kein einziges Restaurant auf dem Gebiet und nur einen Lebensmittelladen“, sagt Sherman. Nur einen Laden – für ein Gebiet, das mit seinen 11.000 Quadratkilometern nicht viel kleiner ist als Schleswig-Holstein und das zu den ärmsten Regionen des Landes zählt. Die Arbeitslosigkeit liegt hier bei über 80 Prozent; die Lebenserwartung ist die niedrigste in den USA.

„Die Versorgung mit Lebensmitteln war sehr schlecht. Wir haben gejagt, wir haben wilde Früchte gesammelt. Aber vor allem haben wir von Regierungslieferungen gelebt“, berichtet Sherman über die Küche seiner Kindheit: „Dosenfleisch, Dosengemüse, Dosenobst, literweise Maissirup, Milchpulver, Regierungskäse, Regierungscornflakes. Wir hatten wenig ursprüngliche Kost – es herrschten Assimilation und Rassentrennung.“

Aus dieser Zeit stammt das Fry Bread, ein frittiertes Brot aus Weizenmehl, Schmalz und Salz. Sherman macht es für den verheerenden Gesundheitszustand der indigenen Community verantwortlich, in der Diabetes und Übergewicht grassieren. Er nennt es „Oppression food“: Unterdückungsessen. Aus seinem Kochbuch hat er es verbannt.

Den Weg zum Koch schlägt Sherman früh ein. Als 13-Jähriger wäscht er Teller in einem Imbiss, er arbeitet sich hoch, wird mit Ende 20 Küchenchef – und ist schnell ausgebrannt. Doch bei einer Auszeit in Mexiko landet der Koch in einer Region, in der sich die indigenen Küchentraditionen erhalten haben. Die Reise wird zur Offenbarung.

Ab nun macht Sherman sich auf die Suche: „Ich habe einfach die indigene Speisekammer meines Volkes erkundet, aus der ich komme“, sagt er. „Bei uns gibt es Vögel und Fische, hier wachsen Wildzwiebeln, Knollen wie Rüben und Kartoffeln, wilder Knoblauch und Ingwer, Kräuter, Gewürze, Früchte und Beeren.“ Seine Rezepte kombinieren die naturkundliche Beobachtung und seine Erfahrung als Koch. „Ich habe es einfach zusammengesetzt“, sagt Sherman, „Es gibt kein historisches Kochbuch der indigenen Küche. Ich habe etwas gemacht, dass es noch nicht gab.“

Verzicht auf alles Europäische

Der Sioux-Chef kocht mit alten Techniken und Konservierungsmethoden seiner Ahnen und ausschließlich mit ihren Zutaten: mit Bohnen, Mais und Kürbis, Chili, Sonnenblumenkernen und Wildbret. Verzichtet wird auf alles, was die Europäer eingeführt haben: auf Milchprodukte und Rindfleisch, auf Weizenmehl, Schwein und Huhn. Dekolonisation heißt das Konzept dahinter. Und paradoxerweise trifft es ausgerechnet das Ernährungsideal von progressiven Weißen. Sherman: „Wir sind glutenfrei, weizenfrei, zuckerfrei, sojafrei, schweinefrei – und damit ist unser Essen ziemlich gesund.“

Shermans Blick richtet sich nach vorne: „Wir kochen nicht, als ob die Kolonisation nie stattgefunden hätte. Wir kochen nicht wie 1491“, sagt er. Und doch hofft er, dass sich mit dem Essen der Kolonisatoren auch ihr geistiges Erbe ersetzen lässt, die „Ichbezogenheit und die Anhäufung von Reichtum, Umweltzerstörung und die Entmenschlichung von People of Color“.

Dagegen setzt er die tiefe Beziehung, die Indigene zu Tieren, Land und Pflanzen haben und ihren starken Gemeinsinn. Daran orientiert sich auch Shermans Geschäftsmodell. Seine Einnahmen steckt er in die Non-Profit-Organisation Natif.org, die mit Ernährung und Bildung die Lebenssituation der Native Americans verbessern will.