Die CDU-Politikerin wird von ihrer Partei zur Spitzenkandidatin für die Europawahlen gekürt. Seit fünf Jahren macht sie den Knochenjob als mächtige Chefin der Brüsseler Kommission. Doch unumstritten ist sie nicht.
Rundschau-Debatte des TagesVon der Leyen will weitermachen – warum?
Ursula von der Leyen versteht es, sich auf großer Bühne zu inszenieren. Ihre Auftritte sind bis ins Detail geplant, kein Wort, das die EU-Kommissionspräsidentin von sich gibt, das vorher nicht im engsten Beraterkreis vorgeschrieben wurde. Insofern fällt von der Leyens Auftritt am Samstagvormittag gleich in zweifacher Hinsicht aus der Reihe. Sie ist bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu Gast, ein Termin, wie ihn von der Leyen liebt. Internationales Publikum, Küsschen links, Küsschen rechts, transatlantisch geht es zu, Arbeitssprache Englisch. Und dann noch der Titel der Diskussionsrunde, „Europe’s finest hour“ („Europas größte Stunde“); von der Leyen will diese „Sternstunde“ mit einleiten.
Allein, Europas Chef-Mutmacherin kommt zu spät. Die Diskutanten erörtern bereits die Äußerungen von Donald Trump zur Nato, als von der Leyen aus dem Zuschauerraum ins Scheinwerferlicht hastet. Dann weicht die 65-Jährige auch noch vom Skript ab. Als sie gefragt wird, ob sie es für eine gute Idee halte, einen EU-Kommissar für Verteidigungsfragen zu installieren (siehe Kasten), platzt es aus ihr heraus: „Oh yes!“ Fast, so scheint es, ist die Behördenchefin nicht ganz bei der Sache.
Kontinuität als wichtigster Antrieb
Das mag daran liegen, dass sie an diesem Wochenende ein ganz anderes Projekt umtreibt als europäische Sicherheitsfragen – ihre zweite Amtszeit. Am heutigen Montag wird die CDU-Führung von der Leyen in Berlin zur Spitzenkandidatin für die Europawahlen Anfang Juni küren. In zwei Wochen soll sie auf dem Parteitag der Europäischen Volkspartei (EVP), des Zusammenschlusses der christlich-demokratischen und bürgerlich-konservativen Parteien Europas, in Bukarest aufgestellt werden.
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Die Niedersächsin setzt deshalb in München sogar Termine an, die sie sonst eher vermeidet: Mehrmals ruft sie Journalisten zum Hintergrundgespräch, um den Boden für ihre Kandidatur zu bereiten. Sie habe schon mit sich gerungen, mit der Familie gesprochen, aber angesichts der Weltlage sei sie es sich schuldig, anzutreten, Stichwort Kontinuität. Ihre Leute formulieren es so: Von der Leyen habe in ihrer Amtszeit wichtige Prozesse, ob beim Klimaschutz oder in Sachen Ukraine, angestoßen. „Das darf jetzt nicht in eine komplett andere Richtung kippen“. Es ist unmissverständlich: Ursula von der Leyen glaubt, Europa brauche Ursula von der Leyen.
Lob für die Krisenmanagerin
„Ihre Performance war enorm“, sagt der CDU-Europaparlamentarier Dennis Radtke. Von der Leyen sei „die einzige europäische Politikerin, die in den letzten Jahren Klarheit und Orientierung angeboten hat“. Wie Radtke loben viele von der Leyens Rolle als Krisenmanagerin in einer Zeit, in der sich Europa im Dauer-Ausnahmezustand befand. Erst die Corona-Pandemie, als die Kommission den gemeinsamen Einkauf von Covid-Impfstoffen übernahm. Dann Russlands Einmarsch in die Ukraine, als von der Leyen maßgeblich die gemeinsame Antwort der Europäer mitformulierte. Erstmals in ihrer Geschichte finanzierte die EU den Kauf und die Lieferung von Waffen. Erstmals in ihrer Geschichte auch verhängte die Gemeinschaft beispiellose Strafmaßnahmen gegen Russland. Positiv wird auch der schnelle Umbau der Energieversorgung und die Frage der Rohstoffsicherung betrachtet.
Auf der anderen Seite werfen ihr viele EU-Abgeordnete Versäumnisse in der Handels- und Industriepolitik vor, Konservative sehen zudem die unternehmerische Freiheit eingeschränkt durch Verbrenner-Aus, Abgasnormen und immer strengere Vorgaben für die Wirtschaft, etwa bei Lieferketten.
Zu viel Klima, zu wenig Wirtschaft?
Im Zentrum der Kritik steht von der Leyens Prestigeprojekt: der Grüne Deal. Ihre Vorhaben zum klimafreundlichen Umbau der europäischen Wirtschaft haben in Brüssel einen regelrechten Kulturkampf ausgelöst. Als die Deutsche ihre Klimaschutzideen gleich nach Amtsbeginn vorstellte, schwärmte sie von Europas „Mann-auf-dem-Mond-Moment“. 2021 kam das „Fit for 55“-Paket, mit dem die EU bis 2050 klimaneutral werden soll. Es war, um im Bild zu bleiben, die Zündung der Rakete. Mittlerweile, so warnen Beobachter, droht das ganze Projekt zu einem Rohrkrepierer zu werden.
Das Urteil mag zu harsch ausfallen. Tatsächlich schwindet aber zunehmend der Rückhalt für immer mehr Regeln. Der CSU-Europaparlamentarier Markus Ferber formuliert es so: „Frau von der Leyen hat viel zu spät erkannt, dass man mit Bürokratie nicht Klimaschutz hinkriegt, sondern nur die Unternehmen gängelt.“ Sie habe sich „öfter mit Greta Thunberg getroffen als mit Wirtschaftsvertretern“.
Die Konservativen verstehen sich dieser Tage gerne als Anwälte der Landwirte. Der Ärger auf der Straße, so befürchten sie in Brüssel, könnte nach den Europawahlen Anfang Juni in Form von Protestmandaten ins Parlament wandern. Alle Umfragen prophezeien einen Rechtsruck. Schlussendlich lenkte von der Leyen ein. Radtke spricht von einem „neuen Realismus“. Nicht nur nahm sie den Vorschlag zum Verbot von Pflanzenschutzmitteln in bestimmten landwirtschaftlichen Gebieten zurück, auch das Renaturierungsgesetz wurde zur Freude der Bauern weitgehend entschärft.
Klare Erwartungen des eigenen Lagers
Als Bonbon nahm sich von der Leyen der Sache mit dem Wolf persönlich an. Seit im Sommer 2022 ihr 30 Jahre altes Pony namens Dolly im heimischen Burgdorf in der Region Hannover von einem Wolf gerissen wurde, treibt die Niedersächsin der Lupus um. Im Dezember empfahl die Kommission, die strengen Schutzregeln zu lockern.
Von der Leyen habe in den letzten Monaten „klug umgesteuert und die Sorgen der Landwirte aufgenommen, bevor die Demonstrationen in Deutschland und vielen anderen Ländern losgegangen sind“, findet der CDU-Europaparlamentarier Peter Liese. Gleichwohl könne man ihre Leistungen für den Klimaschutz „kaum überschätzen“.
Die EVP sei zusammengerückt, heißt es, habe aber klare Erwartungen für die nächste Legislaturperiode. „Stichwort Nummer eins heißt nicht Green Deal, sondern Wettbewerbsfähigkeit und Stärkung des Binnenmarkts“, sagt Ferber. Da wolle man „nicht nur Überschriften hören, sondern konkretes Handeln sehen“. Auch Radtke fordert, „dass die zarten Pflänzchen mit Blick auf Industriepolitik in der nächsten Periode weiterentwickelt werden“.