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Rundschau-Debatte des TagesMacht Israel jetzt Tabula rasa im Nahen Osten?

Lesezeit 4 Minuten
Nahariya: Ein israelischer Feuerwehrmann arbeitet daran, ein Feuer zu löschen, nachdem eine aus dem Libanon abgefeuerte Rakete in der Nähe von Nahariya im Norden Israels eingeschlagen ist.

Nahariya: Ein israelischer Feuerwehrmann arbeitet daran, ein Feuer zu löschen, nachdem eine aus dem Libanon abgefeuerte Rakete in der Nähe von Nahariya im Norden Israels eingeschlagen ist.

Israels Ausweitung seiner Kriegsziele im Libanon zielt auf die Entwaffnung der Hisbollah-Miliz und eine möglicherweise langfristige Neuordnung der Machtstrukturen im Nahen Osten.

Israel weitet seine Kriegsziele im Libanon aus. Eine Waffenruhe komme nur infrage, wenn die Hisbollah-Miliz entwaffnet werde, erklärte Außenminister Israel Katz am Montag. Bisher hatte die Regierung in Tel Aviv lediglich den Rückzug der Miliz aus dem israelisch-libanesischen Grenzgebiet verlangt. Die Erklärung des Ministers und neue Angriffe der Luftwaffe im Libanon und im Jemen deuten an, dass Israel mit dem Mehrfrontenkrieg die Machtstrukturen im Nahen Osten auf Dauer zu seinen Gunsten neu ordnen will. Von einem Ende des Gaza-Krieges, mit dem die Eskalation vor einem Jahr begann, ist keine Rede mehr.

Angriffe auf Hisbollah und Huthis

Die israelische Luftwaffe griff in der Nacht zum Montag erstmals seit fast 20 Jahren im Zentrum der libanesischen Hauptstadt Beirut an. Dabei starben drei Mitglieder der Volksfront für die Befreiung Palästinas, die wie die Hamas vom Iran unterstützt wird. Mit einem anderen Luftschlag im Süden Libanons tötete Israel den Libanon-Chef der Hamas, Fateh Scherif Abu el-Amin. Gegenangriffe der Hisbollah mit Raketen auf Israel blieben wirkungslos. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant deutete den baldigen Beinn einer Bodenoffensive im Libanon an. „Israel fühlt sich unbesiegbar“, kommentierte der katarische Sender Al-Dschasira.

Seit Mitte September haben israelische Luftangriffe im Libanon mehr als 1000 Menschen getötet. Die Hisbollah verlor ihren Anführer Hassan Nasrallah, mehr als ein Dutzend ranghohe Kommandeure und einen Teil ihres Waffenarsenals. Am Wochenende bombardierten israelische Jets zudem die Hafenstadt Hodeida im Jemen, um Raketen- und Drohnenangriffe der ebenfalls pro-iranischen Huthi-Rebellen auf Israel zu rächen.

Weiter keine Feuerpause in Gaza

Auch die Gefechte in Gaza gehen weiter. Laut Al-Dschasira starben dort am Wochenende fast 30 Zivilisten bei Kämpfen zwischen israelischen Truppen und der iranisch unterstützten Hamas, die den Konflikt mit ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober vorigen Jahres losgetreten hatte. Die monatelangen Bemühungen um eine Feuerpause in Gaza sind gescheitert.

Dabei liege ein Entwurf auf dem Tisch, der den Krieg innerhalb weniger Wochen beenden könne, sagt der israelische Hamas-Experte und frühere Geisel-Unterhändler Gershon Baskin. Selbst in der Frage einer Nachkriegsordnung in Gaza gebe es Ansätze, sagte Baskin unserer Redaktion. Demnach solle für eine Übergangszeit eine „professionell-technokratische, unparteiische und nicht zur Hamas gehörende“ Regierung gebildet werden. Die Hamas sei damit einverstanden.

Irans Vorposten stark geschwächt

Israels Regierung hat nach Einschätzung von Baskin und anderen Experten aber kein Interesse an einem baldigen Ende der Kämpfe im Libanon oder in Gaza. Die Hisbollah – die bisher stärkste Miliz im Nahen Osten – ist nach Israels Angriffen so geschwächt, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Chance sieht, die Machtverhältnisse in der Region grundsätzlich umzukrempeln. Nasrallahs Tod sei ein historischer Wendepunkt, der das Gleichgewicht der Kräfte im Nahen Osten verändern werde, sagte er.

Bisher diente die Hisbollah dem Iran als befreundete Streitmacht an Israels Grenze, deren militärische Stärke eine abschreckende Wirkung auf Israel haben sollte. Bei einem israelischen Angriff auf den Iran sollten die Hisbollah und andere Gruppen der iranischen „Achse des Widerstands“ gegen Israel losschlagen. Die Verluste der Hisbollah in den letzten Wochen haben diese iranische Strategie jedoch über den Haufen geworfen.

Teheran steckt in der Zwickmühle

Die Doktrin der „Strategischen Geduld“ des iranischen Revolutionsführers Ajatollah Ali Khamenei – die Vermeidung einer direkten Konfrontation mit Israel durch den Einsatz pro-iranischer Gruppen wie der Hisbollah – sei im Libanon „geschreddert“ worden, analysiert der Iran-Experte Arash Azizi von der Universität Boston. „Der Iran ist in einer sehr schwierigen Lage“, sagte er unserer Redaktion. „Wenn er Israel direkt angreift, riskiert er, dass ein Krieg ausbricht, den er sich nicht leisten kann. Wenn der Iran nichts tut, gibt er sich geschlagen – dann wird es schwer sein, das Gesicht zu wahren.“ Azizi erwartet, dass sich Khamenei trotzdem gegen einen Angriff auf Israel entscheidet.

Neue regionale Ordnung als Ziel?

Israels Regierung dagegen sieht nach der Demütigung der Hisbollah möglicherweise die Zeit für eine Abrechnung mit Teheran gekommen. „Ein immer draufgängerisches Israel erwägt offenbar, im ganzen Nahen Osten die Konfrontation mit dem Iran zu suchen“, meint Julien Barnes-Dacey von der europäischen Dekfabrik ECFR. Dahinter stecke das Ziel, „eine neue regionale Ordnung zu schaffen“, sagte Barnes-Dacey unserer Redaktion.

Ob Netanjahu einen Angriff auf den Iran plane, sei nicht sicher, sagt der Nahost-Experte Joe Macaron von der US-Denkfabrik Wilson Center. „Fest steht, dass er die ,Achse des Widerstands‘ gegen Israel eliminieren will“, sagte Macaron unserer Redaktion. Dabei lasse sich der Premier auch nicht vom Partner USA stoppen: „Netanjahu ist außer Kontrolle.“