Eine Studie der Ruhr-Uni liefert zum Teil besorgniserregende Befunde.
Bedingt demokratischWas halten junge Menschen vom Rechtsstaat?
Der Rassismusforscher Prof. Karim Fereidooni und die Sozialwissenschaftlerin Nora Pösl haben untersucht, was Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund von der Demokratie halten. Die Ergebnisse sind zum Teil besorgniserregend, wie das Gespräch mit Matthias Korfmann und Christopher Onkelbach zeigt.
Frau Pösl, Herr Prof. Fereidooni, warum haben sie Jugendliche nach ihrer Einstellung zu Demokratie gefragt?
Fereidooni: Häufig habe ich in meinen Workshops für Lehrkräfte und PolitikerInnen dies gehört: „Da, wo die Geflüchteten herkommen, gibt es keine Demokratie. Also können diese Menschen wohl nicht verstehen, was Demokratie ausmacht.“ Wir haben erforscht, ob das zutrifft.
Und, trifft es zu?
Pösl: Nein. Die Zustimmung zum deutschen Grundgesetz ist unter den befragten Schülerinnen und Schülern groß. Geflüchtete Jugendliche stehen sogar noch mehr hinter Verfassung und Demokratie also solche, die nicht flüchten mussten. Menschen, die das Leben in einem autoritären Staat kennen, scheinen Demokratie besonders wertzuschätzen. Die Zustimmung liegt unter den Geflüchteten bei 85 Prozent, unter nicht geflüchteten Jugendlichen bei unter 80 Prozent.
Fereidooni: Es gibt hier aber ein Problem: Die Hälfte der Befragten gibt an, dass sie sich nicht genug in politische Entscheidungen einbezogen fühlen.
Was wünschen die sich?
Pösl: Dass Lehrkräfte mehr Zeit haben für die Vermittlung von Politik und Demokratie. Dass man SchülerInnen in der Schule beibringt, wie man über Petitionen, Demonstrationen, Engagement in Parteien und Organisationen politisch und demokratisch handeln kann, über die Wahl alle vier Jahre hinaus. Schule muss selbst auch ein demokratischer Ort sein, der starke SchülerInnen-Vertretungen, Klassenräte und SchülerInnenparlamente zulässt.
Widerspricht ihr Befund, die Einstellung zur Demokratie sei unter den Jugendlichen gut, nicht mit einem anderen Befund aus Ihrer Studie? Mehr als die Hälfte der Befragten sagen nämlich, sie seien für einen starken, autoritären Staat und fast die Hälfte plädiert für die Todesstrafe.
Fereidooni: Stimmt, das passt nicht zusammen. Übrigens lehnen etwa 30 Prozent der befragten Geflüchteten, die ja eigentlich ein positives Bild von der Demokratie haben, die Gleichstellung von Schwulen, Lesben und queeren Menschen ab. Unter den Befragten ohne Migrationshintergrund und unter MigrantInnen ohne Fluchterfahrung liegt die Ablehnung nur bei zehn Prozent. Es gibt da also einige Widersprüche zum Bekenntnis zum Grundgesetz. Das Puzzle passt nicht ganz zusammen.
Wie erklären Sie das?
Fereidooni: Menschen picken sich häufig das heraus, was ihnen gefällt und was ihnen nützt. Daher finde die meisten Befragten das Grundgesetz gut, einige pflegen dennoch weiter autoritäre und menschenfeindliche Einstellungen. Nur weil jemand geflüchtet ist oder diskriminiert wurde, ist er nicht automatisch gegen Sexismus oder Queer-Feindlichkeit.
Also stimmt der Vorwurf, viele Geflüchtete verstünden nicht, was Demokratie ausmache, doch?
Fereidooni: Vorsicht! 70 Prozent der geflüchteten Befragten sind nicht queerfeindlich eingestellt. Die Frage ist, wie man die anderen 30 Prozent an Bord holen kann. Zum Beispiel, indem man ihnen in der Schule erklärt, wie hart der Kampf in Deutschland für die Rechte von Frauen, Homosexuellen, Menschen mit Behinderungen war und wie lange er gedauert hat.
Ihre Studie legt eine weitere Widersprüchlichkeit offen: Einerseits plädieren die meisten Befragten für eine Trennung von Staat und Religion. Andererseits sind für viele Jugendliche religiöse Vorschriften wichtiger als staatliche Gesetze. Ist das nicht alarmierend?
Pösl: Etwa 50 Prozent der befragten Jugendlichen sagen, es sei wichtiger, die Religion zu befolgen als die Gesetze des Staates. Schüler ohne Migrationshintergrund sind nur zu 20 Prozent dieser Ansicht, unter den Geflüchteten 70 Prozent.
Fereidooni: Das ist in der Tat alarmierend, weil das an den Grundfesten unserer Demokratie rüttelt, nämlich an der Trennung von Religion und Staat. Umso wichtiger ist, dass Schule ein demokratischer Schutz- und Lernraum ist. Häufig ist die Schule sogar der einzige Ort, um undemokratische Einstellungen zu korrigieren. Leider haben Lehrkräfte kaum Zeit für diese Korrektur.
Außerdem sollte Demokratiekompetenz Teil der Lehrkräfteausbildung sein, und zwar für Lehramtsstudierende aller Fächer. Mein Plädoyer ist: Bildet Lehrkräfte so aus, dass sie wissen, wie sie auf Menschenfeindlichkeit reagieren müssen. Häufig glauben Lehrkräfte, sie müssten sich neutral verhalten. Das hat aber Grenzen: Bei menschenfeindlichen Äußerungen müssen Lehrkräfte unbedingt Haltung zeigen. Eine unserer Studierenden, die ein Praktikum an einer Schule absolviert, sagte, der Schulleiter habe verboten, mit den Schülerinnen und Schülern über den Hamas-Terror vom 7. Oktober und über den Nahostkonflikt zu reden. Das geht gar nicht. Lehrkräfte müssen da sprechfähig sein. Wenn sie es nicht tun, dann „lernen“ die Jugendlichen mit TikTok & Co.
Kann man alle Menschen zu guten Demokraten erziehen?
Fereidooni: Es gibt Grenzen: 20 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft sind für Demokratie und Toleranz nicht empfänglich. 20 Prozent sind schon durch und durch überzeugte Demokraten. Besonders wichtig für die pädagogische Arbeit sind die 60 Prozent in der Mitte.
Die Umfrage
Befragt wurden zwischen 2020 und 2022 insgesamt 437 Jugendliche an sechs Berufskollegs im Ruhrgebiet. 110 dieser Befragten haben keinen Migrationshintergrund, 235 haben eine internationale Familiengeschichte, 89 Fluchterfahrung.
Die Ergebnisse stehen in einem Buch von Fereidooni/Pösl. Titel: „Existierst du nur oder partizipierst du schon?“