In Marseille tobt ein brutaler Bandenkrieg mit minderjährigen Auftragsmördern, die über soziale Medien von inhaftierten Drogendealern rekrutiert werden.
„Beispiellose Rohheit“Jugendliche Auftragsmörder ohne Skrupel
Beim Hobby-Fußballclub in Marseille, wo der Franzose Nessim Ramdane trainierte, herrscht auch Tage nach dem Drama Entsetzen. Der 14-jährige Matthias, ein Vereinsmitglied, hat ein Trikot mit dem Vornamen Nessim bedrucken lassen und mit Filzstift das Datum 4.10.2024 dazu geschrieben – an dem Tag wurde Ramdane am Steuer seines Taxis mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet. Der 14-jährige Täter sollte eigentlich einen Auftragsmord an einem Drogenhändler begehen und verlor die Nerven, als Ramdane nicht auf ihn warten wollte. So wurde der 36-Jährige zu einem Kollateralopfer. „Ich kenne seine beiden Söhne, Zwillinge, und seine kleine Tochter“, sagt Matthias, tief betroffen. „Wir müssen jetzt für sie da sein.“
Marseille: Immer wieder blutiger Schauplatz
Als Haupt-Drogen-Umschlagplatz des Landes wird die südfranzösische Hafenstadt seit Jahrzehnten regelmäßig durch blutige Bandenkriege erschüttert. Meist geht es um die Kontrolle besonders lukrativer Deal-Plätze. Waren bislang vor allem die einkommensschwachen Nord-Viertel betroffen, so verlagern sich die Kämpfe zunehmend ins Zentrum. Das war auch der Fall bei den zwei jüngsten Morden, darunter jenem an Ramdane.
Hinter beiden stand laut eigenem Geständnis der 23-jährige Hacène L.. Von seiner Gefängniszelle in Aix-en-Provence aus heuerte der Drogenhändler über die sozialen Netzwerke einen 15-Jährigen an, der am Mittwoch letzter Woche für 2000 Euro in die Wohnungstür eines Rivalen schießen, diese in Brand stecken und seine Tat filmen sollte. Doch er wurde von Mitgliedern der gegnerischen Bande entdeckt, die ihm 50 Messerstiche zufügten und ihn lebendig verbrannten. Für einen Rachemord versprach Hacène L. daraufhin einem 14-Jährigen 50000 Euro. Als der Jugendliche stattdessen den Taxifahrer tötete, denunzierte ihn L. bei der Polizei.
Der Oberstaatsanwalt von Marseille, Nicolas Bessone, sprach von einer „beispiellosen Rohheit“ und einer „Ultra-Verjüngung“ der Täter. „Es gibt einen totalen Orientierungsverlust, der dazu führt, dass Jugendliche ohne die geringsten Skrupel auf Anzeigen zum Morden antworten.“ Auch die Rolle der sozialen Medien werfe Fragen auf.
Mit 49 Toten in Verbindung mit dem Drogenhandel wurde 2023 ein neuer, trauriger Rekord in Marseille erreicht. In diesem Jahr waren es bislang 17. Doch Entwarnung kann nicht gegeben werden, betont der republikanische Senator Étienne Blanc, Berichterstatter einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu dem Problem. „Erfahrene Drogenhändler rekrutieren Minderjährige für die härtesten Aufgaben, denn ihre Strafen fallen gering aus“, erklärt der Politiker. Außerdem sei heute ein rasanter Aufstieg innerhalb eines Clans möglich. Früher mussten sich neue Mitglieder in einer Art „Schule der Gewalt“ erst bewähren. „Heute finden sie sich von heute auf morgen mit Kriegswaffen in der Hand wieder.“
Auf Geschenke folgen Drohungen und Erpressung
11- bis 14-Jährige werden nicht mehr nur als Späher eingesetzt, um vor der Polizei zu warnen, bestätigt auch der Polizei-Gewerkschaftsvertreter Eddy Sid. „Die Kinder sind für schnelles Geld zu allem bereit.“ Die Polizei in Marseille führt inzwischen in Mittelschulen der Stadt Präventionskurse durch, um die Strategie der Dealer zu erklären: Erst gibt es Geschenke, um Jugendliche abhängig zu machen, dann folgen Drohungen und Erpressung.
Seit dem Frühjahr wurden mehrere großangelegte Polizeieinsätze zum massiven Kampf gegen den Drogenhandel durchgeführt. Bei der ersten kam überraschend Präsident Emmanuel Macron persönlich, der Marseille als seine Lieblingsstadt bezeichnet. Doch die Wirkungen der „XXL-Operationen“ seien nur begrenzt, sagt der Senator Étienne Blanc. „Sie können die Lage kurzzeitig verbessern, aber bekämpfen nur die Spitze des Eisbergs, nicht den verdeckten Teil, vor allem die internationale Dimension des Drogenhandels.“ Man erwische die „kleinen Hände“, während die Chefs der Ringe sich meist im Ausland befänden. Oder gar in Haft – von wo aus sie wie im Fall von Hacène L. ausreichend Zugang zu Handys haben, um weitere Straftaten in Auftrag zu geben.