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Interview

Asylexperte zum Grundrecht
„Recht auf Asyl ist jenes Grundrecht, das politisch am stärksten umstritten ist“

Lesezeit 5 Minuten
Eine rote Ampel leuchtet vor dem Wort „Asyl“ auf einem Wegweiser zur Erstaufnahme-Einrichtungen (EAE) (Symbolbild)

Eine rote Ampel leuchtet vor dem Wort „Asyl“ auf einem Wegweiser zur Erstaufnahme-Einrichtungen (EAE) (Symbolbild)

Eine Abschaffung von Artikel 16a des Grundgesetzes hätte laut Experten keine Auswirkungen auf Deutschlands Asylpolitik. Ein Interview mit Historiker Michael Mayer

Anschläge durch Asylbewerber haben Migration und Islamismus ins Zentrum des Wahlkampfes katapultiert. Selbst das Grundrecht auf Asyl wird mittlerweile infrage gestellt. Was wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit diesem Recht bewirken? Darüber spricht Philipp Ebert mit Historiker Michael Mayer, Leiter des Arbeitsbereichs Zeitgeschichte an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.

Herr Mayer, was genau verbirgt sich eigentlich hinter der Idee „Asyl“?

Die Genfer Flüchtlingskonvention besagt: Asylsuchende dürfen nicht an der Grenze zurückgewiesen werden, wenn sie aus einem Verfolgerstaat kommen. Ihr Asylanspruch wird geprüft. Wenn das Asylgesuch ungerechtfertigt ist, werden die Menschen ausgewiesen. Das ist der Kern des Völkerrechts. Ähnlich sieht dies auch Artikel 16 – oder heute 16a – des Grundgesetzes vor.

Stimmt es denn, dass das Asylrecht im Grundgesetz eine Antwort auf die Verbrechen von Nazi-Deutschland war?

Diese Überhöhung ist auch Teil der Erfolgserzählung der Bundesrepublik: „Wir haben aus dem Völkermord gelernt und sind jetzt gute Menschen geworden.“ Das ist aber unterkomplex. Die NS-Vergangenheit hatte gewisse Auswirkungen auf die Entstehung des Grundrechts auf Asyl im Grundgesetz, wichtiger aber sind die politischen Probleme der Jahre 1947 bis 1949, als das Grundgesetz erarbeitet wird.

Welches Ziel verfolgt der Parlamentarische Rat mit der Formulierung „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ in Artikel 16?

Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz formuliert hat, wollte damit vor allem sicherstellen, dass Deutsche, die in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) verfolgt wurden, nicht wieder dorthin ausgewiesen werden konnten. Aber auch ausländische Verfolgte sollten geschützt werden.

Wieso sollten Flüchtlinge in die SBZ – also die spätere DDR – ausgewiesen werden?

Vor allem seit Jahresbeginn 1947 fliehen zigtausende Deutsche aus der SBZ nach Westen. Die Leute hatten den Hungerwinter 1946/47 in den Knochen. Auch nehmen die Verfolgungen immer weiter zu. Doch sind sie im Westen nicht willkommen. Vor allem die US-Besatzungsmacht schließt die Grenzen zu ihrer Zone. Flüchtlinge werden von US-Grenzern in Bayern und Hessen wieder in die SBZ ausgewiesen. Deshalb flammt dort die Diskussion über ein Asylrecht für Deutsche auf.

Die längste Grenze zur SBZ hatte die britische Zone in Niedersachsen. Wie sah es da aus?

In der britischen Zone läuft die Debatte genau andersherum. Die britischen Besatzer wollen, dass alle SBZ-Flüchtlinge aufgenommen werden. Niedersachsen muss aber schon die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen integrieren. Deshalb kommt die niedersächsische Regierung 1947 auf die Idee, Asylverfahren für SBZ-Flüchtlinge einzuführen. So hat man eine Möglichkeit, etwa 80 Prozent der Flüchtlinge zu sagen: „Ihr seid nicht verfolgt, ihr müsst also wieder zurück in die sowjetische Zone.“ Denn Asyl heißt: „Ich nehme nicht alle auf, sondern nur ganz wenige.“

Wieso?

Indem ich eine Gruppe von Schutzwürdigen definiere, kann ich die übrigen Flüchtlinge ablehnen. Diese Logik zeigt sich dann auch bei der Erarbeitung des Grundgesetzes: Der Parlamentarische Rat wollte die kleine Gruppe der politisch verfolgten Ausländer und Deutschen unbedingt schützen. Zugleich aber wollte er mit dem Asylrecht die Zuwanderung kontrollieren – um so die Mehrheit der Flüchtlinge ausweisen zu können.

Also ging es in der Entwicklung des Asyl-Grundrechts um die Besatzungsmächte?

Grundsätzlich gingen die Mütter und Väter des Grundgesetzes dabei davon aus, dass die kommende Verfassung nicht vorrangig zum Ziel hatte, die Deutschen vor einer autoritären deutschen Regierung zu schützen. In der Wahrnehmung der Jahre 1945 bis 1949 sind es eher die Besatzungsmächte, die die Grundrechte der Deutschen einschränken. Das Grundgesetz sollte also die Deutschen auch vor ihnen schützen.

1993 gab es mit dem „Asylkompromiss“ eine wichtige Reform. Das Asylrecht im Grundgesetz gilt seither nicht mehr für diejenigen, die aus sicheren Ländern einreisen – was ja für sämtliche Nachbarn Deutschlands gilt. Wie bewerten Sie diese Reform?

Der „Asylkompromiss“ von 1993 beendete eine Debatte, die seit den späten 1970ern aufgeflammt war um die Reduzierung der ankommenden Asylbewerber. Zur Bewertung: Der Parlamentarische Rat wollte politisch Verfolgten in jedem Falle zur Hilfe kommen. Zugleich sah der Rat die Asylgewährung als Teil einer internationalen Aufgabe, an der sich alle Staaten beteiligen sollten. Der „Asylkompromiss“ von 1993 hat letztlich die Aufgabe vor allem auf die Schultern der südeuropäischen Länder verlagert. Eine Lösung liegt deshalb in einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik, die trotz aller Widerstände und Hindernisse bereits Realität ist. Der Parlamentarische Rat hätte eine solche gemeinsame europäische Lösung auf alle Fälle befürwortet.

Deutschland diskutiert also seit fast 50 Jahren darüber, wie sich die Zahl der Flüchtlinge hierzulande durch eine Änderung des Grundgesetzes reduzieren lässt?

Ja, und die Flüchtlingszahlen entwickeln sich weitgehend unabhängig davon. Ob der genaue Wortlaut unseres Grundgesetzes überhaupt eine Wirkung auf die Anzahl der Flüchtlinge hat, bezweifle ich. Vielmehr gibt es aufgrund der Weltlage immer wieder Zeiten, in denen mehr Flüchtlinge an der Grenze ankommen. Wenig später sinken die Zahlen wieder, so wie auch aktuell. Zugleich sind die politischen Debatten regelmäßig sehr hitzig, selbst wenn nicht unbedingt so viele Flüchtlinge kommen.

Unterm Strich: Wie relevant ist das Asylrecht im Artikel 16a des Grundgesetzes noch?

Das Recht auf Asyl ist jenes Grundrecht, das politisch am stärksten umstritten ist – und das zugleich faktisch am wenigsten Wirkung zeigt. Die jüngsten Zahlen liegen für 2023 vor: Nur 0,7 Prozent aller in das Bundesgebiet eingereisten Asylbewerber werden auf Basis von Artikel 16a des Grundgesetzes anerkannt. Die überwiegende Mehrzahl der Anerkennungen erfolgt aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention. Anders gesagt: Der Artikel hat praktisch keine Relevanz mehr. Durch eine Abschaffung würde sich nichts ändern. Letztlich wird der Artikel von manchen Kreisen zum zentralen Problem aufgebauscht, um so eine vermeintlich einfache Lösung für die aktuellen Herausforderungen zu bieten. Nach dem Motto: Schafft den Artikel ab, dann verschwinden auch die Probleme.