Das Nachbarland erlebt ein politisches Erdbeben. In Den Haag herrscht Fassungslosigkeit – und in Brüssel macht man sich Sorgen um die Zukunft.
Geert Wilders gewinnt WahlAngst in der EU nach Sieg des „niederländischen Donald Trump“
Er scheint es selbst zunächst kaum fassen zu können. So schlägt sich Geert Wilders ungläubig die Hände vors Gesicht, als kurz nach 21 Uhr am Mittwochabend die ersten Hochrechnungen über den Bildschirm flimmern. Der Balken für seine Partij voor de Vrijheid (PVV) steht ganz oben in der langen Liste der Parteien. Die Rechtsextremen sind stärkste Kraft bei der niederländischen Parlamentswahl. Mit Abstand.
Es ist nicht nur Wilders, der es kaum fassen kann. Während der 60-Jährige wenig später von einem „Mega-Sieg“ schwärmt und ein „historisches Ergebnis“ feiert, stehen die politischen Konkurrenten wie auch Beobachter im In- und Ausland unter Schock. Ein Erdrutschsieg ausgerechnet für den „niederländischen Donald Trump“, der Moscheen schließen und den Koran verbieten will, den Austritt der Niederlande aus der EU fordert, wegen Beleidigung von Marokkanern verurteilt wurde und Klimaschutzpolitik als unnötige Hysterie abkanzelt?
Den vorläufigen Ergebnissen zufolge kommt seine PVV auf 37 der 150 Sitze in der Zweiten Kammer des Parlaments. Zweitstärkste Kraft mit 25 Sitzen ist das rot-grüne Bündnis des früheren EU-Kommissars Frans Timmermans. Dem rechtsliberalen VVD, der Partei des Noch-Ministerpräsidenten Mark Rutte, mit der Kandidatin Dilan Yesilgöz an der Spitze werden 24 Sitze zugerechnet. Die erst vor wenigen Wochen gegründete Partei des Ex-Christdemokraten Pieter Omtzigt, der Neue Soziale Vertrag (NSC), darf laut Hochrechnung mit 20 Sitzen rechnen.
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Wilders, gefühlt der Mann von gestern, ist plötzlich der Mann von heute. Aber wird er auch der Ministerpräsident von morgen? Seine PVV braucht Mitstreiter. Für eine koalitionsfähige Mehrheit wären mindestens drei Parteien nötig. Der Populist beeilte sich deshalb zu betonen, dass sein Sieg respektiert werden müsse. Und präsentierte sich wie in den vergangenen Wochen versöhnlich und bereit zu Kompromissen – die er gleichwohl von den anderen Parteien forderte.
Verzicht auf Hasstiraden gegen den Islam als Zeichen an die Koalitionspartner
Seit Wochen mäßigt Wilders seinen Ton und tritt ungewöhnlich moderat auf. Er strich seine Hasstiraden gegen den Islam aus den Reden. Damit wollte Wilders klarmachen, dass er endlich koalitionsfähig und eine Stimme für ihn keine verlorene sei. Werden sich vorneweg die konservativen Gruppierungen wie die VVD, der NSC und die Bauernpartei auf einen Pakt mit dem Radikalen einlassen? „Bei diesem Ergebnis wird man ihn kaum ignorieren können“, sagt Hardy Ostry, Leiter des auch für Holland zuständigen Europabüros der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Drei Erkenntnisse lassen die Ergebnisse bereits am Tag danach zu: Die Niederländer straften die bisherige Regierung ab. Die Menschen im ländlichen Raum lehnten sich gegen die städtischen Eliten auf. Und die Bürger votierten für eine stärkere Eindämmung der Migration. Darüber war nicht nur die bisherige Mitte-rechts-Koalition zerbrochen, das Thema dominierte auch den Wahlkampf und dürfte die Abstimmung entschieden haben. Während die VVD konsequentere Abschiebungen sowie eine Asyl-Obergrenze verlangte und Omtzigts NSC die Zahl der Migranten auf 50000 pro Jahr beschränken wollte, findet Wilders, das Land dürfe keinen einzigen Asylbewerber mehr aufnehmen.
Am Mittwochabend versprach der Wahlsieger, das zu stoppen, was er einen „Tsunami an Flüchtlingen“ nannte. Ob es um den knappen Wohnraum, die gestiegenen Preise oder die Mängel der Gesundheitsversorgung ging – die Schuld an allen Problemen schoben die rechten Wahlkämpfer auf Migranten. Die Schließung der Grenzen schien denn auch die Lösung für alles zu sein.
Offen bleibt, wie Wilders das in eine Regierungskoalition übersetzen will, „ohne dass er alles vergisst und verrät, was er mal versprochen hat“, sagt Ostry. Das jedoch erfordere die pragmatische Tagespolitik. Die VVD-Spitzenkandidatin Yesilgöz, Tochter von Flüchtlingen, sprach noch am Mittwochabend von einem „enttäuschenden Ergebnis“, das eine wichtige Lehre für alle Politiker beinhalte: „Man hat den Menschen nicht genug zugehört.“ Sie war schon von der Bühne verschwunden, da erklang aus den Lautsprechern das Lied „Wake Me Up“ von Avicii: „Weck mich, wenn alles vorbei ist“.
Der Text fasste auch gut die Stimmungslage in Brüssel am Tag danach zusammen. Was kommt auf die Europäische Union zu, sollte der EU-Feind Wilders bald mit am Tisch der 27 Staats- und Regierungschefs sitzen? Es dürfte schwierig werden, und das nicht nur, weil im Wahlprogramm die Forderung nach einem „Nexit“, also einem Austritt der Niederlande aus der EU, festgeschrieben steht. Der Putin-Fan könnte auch die Unterstützung für die Ukraine gefährden. Zu den ersten Gratulanten gehörte denn auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, der einen „Wind des Wandels“ prognostizierte.
Als Gründungsmitglied und führende Wirtschaftsnation genießen die Niederlande großes Gewicht in Brüssel. „Die Niederländer waren nie EU-euphorisch, aber sie waren immer solide dabei“, sagt Ostry. So sei das Land etwa in handels- und fiskalpolitischen Angelegenheiten insbesondere für Deutschland „immer ein seriöser Partner gewesen“. Unter Wilders könnte sich das jetzt ändern.