StilkolumneIst das Wort „Flüchtling“ diskriminierend?

Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg fliehen, kommen in Deutschland an.
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- Aber bitte mit Stil! In unserer Kolumne „Wie geht’s?“ dreht sich alles um das richtige Verhalten. Ob bei offiziellen Anlässen, beim Essen, im Gespräch oder vor dem Kleiderschrank.
- Protokollchefin i.R. Ingeborg Arians, Redakteurin und Modeexpertin Eva Reik, Restaurant-Chef Vincent Moissonnier sowie Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch schreiben abwechselnd über das richtige und stilvolle Auftreten.
- Diesmal erklärt Anatol Stefanowitsch, ob das Wort „Flüchtling“ diskriminierend ist.
Köln – Das Wort „Flüchtling“ steht seit einigen Jahren in der Kritik. Es gibt Menschen, die es für herabwürdigend halten. Sie begründen das damit, dass die Nachsilbe „-ling“ einen negativen Beiklang habe – in Wörtern wie „Emporkömmling“, „Eindringling“ oder „Fremdling“ – oder, dass es Schwäche oder eine passive Rolle signalisiere. Beispiele sind Wörter wie „Säugling“, „Prüfling“ oder „Häftling“.

Anatol Stefanowitsch ist Sprachwissenschaftler
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In der Tendenz sind diese Beobachtungen richtig. Ein Großteil der Wörter mit „-ling“ hat einen negativen oder einen auf Schwäche hindeutenden Beiklang. Manchmal kommt sogar beides gleichzeitig, etwa beim „Feigling“, „Schwächling“ oder „Weichling“. Wer dem Wort „Flüchtling“ aufgrund des Wortbildungsmusters ein negatives oder herabsetzendes Bedeutungspotenzial bescheinigt, hat dafür also durchaus ein gutes Argument. Allerdings kein zwingendes, denn es gibt auch Wörter mit „-ling“, die einen neutralen oder sogar positiven, nicht mit Schwäche assoziierten Beiklang haben. Man denke an Wörter wie „Neuling“ oder „Liebling“.
Entscheidend ist, wie die angesprochenen Menschen das Wort wahrnehmen
Ob ein Wort herabsetzend ist, lässt sich normalerweise ohnehin nicht an seiner Struktur erkennen. Es hängt von zwei Dingen ab: erstens von seinem Sprachgebrauch und seiner Sprachgeschichte, und zweitens davon, wie die mit dem Wort bezeichnete Gruppe es wahrnimmt. Normalerweise ist dabei der zweite Punkt der entscheidende. Mitglieder einer Gruppe, die regelmäßig mit einem bestimmten Wort bezeichnet werden, wissen am besten, in welcher Absicht das üblicherweise geschieht. Sie wissen auch, welche Bezeichnungen sie für sich bevorzugen – und ein respektvolles Miteinander gebietet es, das zu respektieren.
Beim Wort „Flüchtling“ bilden die so bezeichneten Menschen allerdings keine feste Gruppe. Sie haben außer ihrer aktuellen Situation keine Gemeinsamkeiten und dementsprechend auch keine Eigenbezeichnungen. Sie sind im Normalfall auch nicht mit dem Deutschen als Muttersprache aufgewachsen, so dass sie keine Erfahrungen mit dessen Verwendung sammeln konnten.
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Wir müssen uns also auf Sprachgebrauch und Sprachgeschichte konzentrieren. Und hier zeigt sich weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart ein Hinweis auf einen negativen Beiklang. Das Wort „Flüchtling“ wurde ab dem 17. Jahrhundert in allen möglichen Situationen verwendet, in denen jemand vor etwas oder jemandem flieht oder davonläuft – egal, ob der betreffenden Person dabei Sympathie entgegengebracht wurde oder nicht. Die heutige engere Verwendung als Wort für Menschen, die wegen Armut, politischer Verfolgung oder Krieg ihren Wohnort verlassen mussten, setzte sich im 19. Jahrhundert durch und findet sich bis heute als neutrale Bezeichnung. Der Alternativvorschlag „Geflüchtete/r“ hat sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts zwar gut etabliert und findet sich sowohl in den Medien als auch im allgemeinen Sprachgebrauch, allerdings nicht als Ersatz, sondern als Nebenform für „Flüchtling“, das nach wie vor der üblichere Begriff ist.
„Wie geht’s?“
In unserer Kolumne beantworten vier Experten abwechselnd in der Zeitung Ihre Fragen zum stilsicheren Auftreten in allen Lebenslagen. Ingeborg Arians, Protokollchefin der Stadt Köln a.D., weiß, wie man sich bei offiziellen Anlässen richtig verhält. Journalistin Eva Reik kennt sich bestens aus mit Mode und der passenden Kleidung zu jeder Gelegenheit. Vincent Moissonnier, Chef des gleichnamigen Kölner Restaurants, hat die perfekten Tipps zu Tischmanieren ohne Etepetete. Und Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaft, sagt, wie wir mit Sorgfalt, aber ohne Krampf kommunizieren. (jf)
Senden Sie uns Ihre Fragen bitte per Mail an:Stilkolumne@dumont.de
Sie haben also die Wahl: Sie können bedenkenlos das Wort „Flüchtling“ verwenden, aber wenn es für Sie einen negativen Beiklang hat, greifen Sie zur Alternative „Geflüchtete/r“. Verstanden werden Sie in beiden Fällen.