Finanzexperte Gerd Kommer rät auch Rentnerinnen und Rentnern zu börsengehandelten Fonds. Ein Gespräch mit dem deutschen „ETF-Papst“.
„ETF-Papst“ im Interview„Wichtig ist, dass man überhaupt anfängt, in Aktien zu investieren“
Aktien können nicht nur für junge Menschen interessant sein, sondern auch für Rentner. Das sagt der ehemalige Investmentbanker, Buchautor und Vermögensverwalter Gerd Kommer im Interview. Er gilt als der deutsche ETF-Papst, also Experte für börsengehandelte Fonds.
Bei Aktien gibt es eine Faustregel: Hundert minus Alter. Das ist der Prozentsatz, den Menschen an der Börse investieren sollten. Sind Aktien für Rentner uninteressant?
An sich stimmt die Faustregel. Aber zum einen bleibt ja selbst dann für einen 70-Jährigen noch ein beträchtlicher Anteil für eine Investition in Aktien übrig. Zum anderen gibt es viele Ausnahmen. Wer Geld in den nächsten zehn Jahren voraussichtlich nicht braucht oder sogar nie, weil er es vererben will, muss diese Regel nicht anwenden und könnte höher gehen. Sie ist für jemanden gedacht, der dieses Geld in den nächsten zehn Jahren mit geringer oder hoher Wahrscheinlichkeit selbst nutzen muss oder will. Die Frage ist: Wie viel Geld brauche ich absehbar wirklich? Man stelle sich zwei Töpfe vor. Einen Aktientopf und zum Beispiel ein Tagesgeldkonto, vielleicht im Verhältnis 60 zu 40. Das Geld im Aktientopf sollte ich nur im Notfall in den nächsten zehn Jahren anzapfen müssen. Historisch betrachtet, reicht diese Zeitspanne in der Regel aus, um etwaige Verluste auszusitzen. Wenn sich der Aktientopf vorübergehend schlecht entwickeln sollte, entnehme ich nur Tagesgeld. Die Frage zur richtigen Aktienquote muss ich mir aber jedes Jahr neu stellen.
Viele ältere Menschen halten Abstand von Aktien, weil sie kein Vertrauen in den Markt haben – etwa wegen Erfahrungen mit der Telekom-Aktie oder der Dotcom-Blase. Sind das nicht gute Gründe, nicht zu investieren?
Ja, insbesondere bei Menschen in der zweiten Lebenshälfte sind diese Erlebnisse noch präsent. Aber: Man sollte sich dringend vergegenwärtigen, dass ein Einzelaktieninvestment eine ganz andere Geschichte ist als ein breit gestreutes Investment in die sogenannte Welt-AG, also den Weltaktienmarkt per ETF. Da investiere ich etwa beim MSCI World in 1600 Unternehmen. Das heißt: Wenn da eines pleitegeht, habe ich im Prinzip ein Tausendsechshundertstel meines Vermögens verloren. Aber es wird noch unspektakulärer, Beispiel Wirecard: Als das Unternehmen pleiteging, haben andere börsennotierte Unternehmen wie Visa, Mastercard und Paypal davon profitiert. Der Zahlungsverkehr musste ja irgendwo hinwandern. Insofern verliere ich noch weniger. Mir ist ganz wichtig, dass wir bei Aktien nicht über Einzelaktien sprechen, sondern immer über global diversifizierte Investments, also ein breit gestreutes Risiko.
Wie sollte man den Aufbau seines Depots angehen?
In Deutschland gibt es 1700 Banken, in der Regel normale Filialbanken. Die sind nahezu alle keine großen Freunde von dem, was ich empfehle, nämlich mit ETFs preisgünstig und breit diversifiziert Aktien zu kaufen und sehr langfristig zu halten. Denn an dieser Investition verdient eine Bank nur ein Fünftel bis ein Zehntel von dem, was sie als Alternativen empfiehlt, also etwa aktiv gemanagte Fonds, Zertifikate oder Bausparverträge. Lösung eins: Ich eröffne ein Online-Depot bei einer Internet-Bank und investiere selbst. Lösung zwei: Ich gehe zur Bank und bestehe ohne Beratung darauf, dass dort ein Depot eröffnet und in ETFs investiert wird. Wenn man skeptisch ist, rate ich, einfach mal fünfzig Euro pro Monat per Sparplan in einen ETF zu investieren und dann ein Jahr mal beobachten, was passiert. So bekommt man ein erstes eigenes Gespür für Aktieninvestments.
Sie haben schon Risiken angesprochen: In vielen Welt-ETFs sind US-amerikanische Firmen überrepräsentiert. Ist das nicht riskant?
Ich bin tatsächlich kein großer Freund von einer sehr hohen Gewichtung von amerikanischen Aktien. Aber auch da kann man sich globale Aktien-ETFs suchen, bei denen das USA-Gewicht geringer ist. Man könnte auch einen World-ETF mit einem Emerging-Markets-ETF im Verhältnis 80 zu 20 kombinieren, um das USA-Gewicht herunterzufahren. Aber ich würde niemandem raten, nur wegen dieser einen Sorge nicht zu investieren. Ich sehe das nicht als hochgefährliches Problem an. Wichtiger ist, dass man überhaupt anfängt, in Aktien, die langfristig rentabelste aller Anlageklassen, zu investieren.
Sie haben die Emerging-Markets angesprochen. Momentan performen ETFs darauf schlecht. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?
Es ist richtig, dass Schwellenländer in den vergangenen drei oder zehn oder fünfzehn Jahren weniger stark gestiegen sind als Industrieländer. Aber genau deswegen ist diese Anlagenklasse heute sehr günstig bewertet und in die Zukunft gerichtet sehr attraktiv. Stellen Sie sich vor, ein Reihenhaus zu kaufen. Zwei relativ identische Objekte kommen infrage, beide kosten 300 000 Euro. Eines war vorher teurer. Da ist vielleicht das ein oder andere zu reparieren, oder der Käufer hat sich über den Tisch ziehen lassen. Das andere war vorher günstiger und ist im Wert gestiegen. Für Sie ist es doch egal, welches Sie kaufen. Vielleicht finden Sie Haus A sogar besser, weil Sie denken, Sie machen ein Schnäppchen. So sollte ein Mensch bei einem breit diversifizierten Aktien-ETF im Prinzip auch denken. Es kommt nicht darauf an, ob der ETF in den vergangenen zwei, drei Jahren gestiegen ist oder nicht. Die Frage ist, welches Potenzial für die Zukunft hat er.