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Dark TourismMassaker, Katastrophen, Folter - Urlaub an Orten des Grauens

Lesezeit 7 Minuten
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Nach dem Unfall der Costa Concordia im Januar 2012 pilgerten Tausende Schaulustige zur Insel Giglio.

Tod, Folter, Zerstörung. Eigentlich sind das Dinge, mit denen man im Urlaub normalerweise nichts zu tun haben möchte. Doch in den vergangenen Jahren rückt bei Sozialforschern immer mehr ein Phänomen ins Blickfeld, dass genau das Gegenteil beweist: Dark Tourism.

Der Begriff stammt von den britischen Tourismusforschern John Lennon und Malcolm Foley. „Als Dark Tourism bezeichne ich den Besuch von Orten, an denen Massaker, Katastrophen, Folter oder Tod stattfanden oder die symbolisch für Unterdrückung und Tyrannei stehen“, sagt Lennon, der seit 30 Jahren auf dem Gebiet forscht.

Mit dem Begriff sind aber keinesfalls nur typische Katastrophentouristen gemeint, wie es sie häufig nach Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen oder Hurrikanes gibt. „Wir alle sind Dark Tourists“, sagt Lennon. Als Beispiel nennt er eine Reise nach Krakau. Wer dort die umliegende Natur genießt und die Stadt erkundet, an einem Tag aber auch nach Ausschwitz fährt, fällt ebenfalls in diese Kategorie.

Picknick zum Gemetzel

Auch wenn es den Anschein hat: „Dark Tourism ist kein neues Phänomen“, sagt der Wissenschaftler. Ein Beispiel sei die Kleinstadt Manassas: Dort tobte die erste große Landschlacht im US-amerikanischen Bürgerkrieg. Knapp 900 Menschen starben, 2500 wurden verwundet. Betuchte Bürger aus Washington waren extra angereist, um sich die Kämpfe aus sicherer Entfernung beim Picknick anzuschauen. Und nur einen Tag nach dem Gemetzel sicherte sich ein amerikanischer Unternehmer das Stück Land, auf dem die Schlacht stattfand, um es zum Touristenziel zu machen.

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Nur nachgespielt: Zwischen 1975 und 1979 wurden in Kambodscha bis zu zwei Millionen Menschen durch die damals herrschen Roten Khmer umgebracht.

Die Gründe für einen Besuch in der heutigen Zeit sind vielfältig. So gebe es häufig echtes Interesse an der Geschichte des Ortes und an dem, was dort geschah. Andere Schaulustige wiederum fühlten sich durch die Nähe zum Tod und Leid anderer erst richtig lebendig. Zudem sei der Tod für viele zwar immer noch beängstigend aber faszinierend zugleich. Es gehe darum, eine etwas andere Erfahrung im Urlaub zu machen als üblich, sagt Lennon. Auch die Faszination an der dunklen Seite des Menschen, am Bösen, dürfte eine Rolle spielen.

Häufig aber handle es sich bei den dunklen Orten auch einfach nur um Sehenswürdigkeiten, genauso wie eine berühmte Kirche oder ein bekanntes Museum. Ein ganz besonderes Interesse an eben diesen Ort müsse also gar nicht vorhanden sein.

Souvenir vom Todesschauplatz

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Mindestens 300.000 deutsche und französische Soldaten starben in der Schlacht von Verdun. Heute wirbt die Region mit den Stätten des Ersten Weltkriegs.

Mitverantwortlich für den Trend sei laut Lennon, dass viele dieser Gedenkstätten mittlerweile touristisch gut erschlossen sind. Es gibt Bustouren dorthin, Führungen, angeschlossene Museen und immer öfter auch einen Souvenirshop. Viele Angebote werden vor Ort und im Internet offensiv beworben. Auch deshalb fällt es immer leichter, die Schauplätze des Todes ins eigene Urlaubsprogramm zu integrieren.

Genau das ist für Lennon aber problematisch. Um Gedenkstätten für Touristen ansprechender zu machen, würde die Geschichte stark verkürzt oder einseitig wiedergegeben. Statt den Fakten trete die Unterhaltung in den Vordergrund, nur um die Besucherzahlen nach oben zu treiben. Am Ende bleibe manchmal nur ein makaberer Vergnügungspark übrig. Die Orte deshalb nicht zugänglich zu machen, sei für Lennon aber auch keine Lösung. „Es gibt keinen leichten Weg, damit umzugehen.“

Einer, der es versucht, ist der Historiker Axel Drecoll. Er ist der Leiter einer Ausstellung am Obersalzberg. Mehr als 175.000 Besucher zählt der Ort jährlich. Schon zu Lebzeiten Adolf Hitlers entwickelte er sich zu einem Wallfahrtsort. Nach Ende des zweiten Weltkrieges riss der Besucherstrom jedoch nicht.

In unseriösen Touristenführern sind vor allem Propagandabilder aus dem 3. Reich zu sehen. Ein netter Führer, der kleinen Kindern die Hand reicht oder in der Bergidylle spazieren geht. „Damit wird die NS-Propaganda nur weiter verbreitet“, warnt Drecoll. Deshalb sei es wichtig, vor Ort immer auf die Inszenierung hinzuweisen und dass die angeblich heile Welt auch immer mit den NS-Massenmorden und den Schrecken des zweiten Weltkrieges zusammenhängt.

Wie wird man zum Massenmörder?

Auch er sieht „Dark Tourism“ nicht als monokausales Phänomen. „Das Böse hat tatsächlich eine merkwürdige Anziehungskraft“, sagt er. „Aber unsere Besucher haben auch ganz legitime Fragen. Zum Beispiel, wie muss ein Mensch sein, der wie Hitler zu einem Massenmörder geworden ist.“

Drecoll glaubt, dass ein gut aufbereitetes Konzept vor Ort durchaus dabei helfen kann, das Besucher sich vom reinen Voyeurismus abwenden und etwas über die Geschichte lernen. Dies sei die beste Methode, um Gedenkstätten nicht zu einem makabren Vergnügungspark verkommen zu lassen.

Zudem gebe es mit einem seriösen Konzept einen weiteren positiven Effekt. Wissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass mit dem Besuch einer Gedenkstätte des Grauens eine Art moralische Erneuerung in Gang gesetzt wird: Die Menschen werden wieder sensibler gegenüber Unrecht – und das freiwillig und im Urlaub.

Fünf düstere Ausflugsziele

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Tschernobyl: Mehrere Veranstalter bieten Touren durch die Sperrzone.

Verdun: Die Schlacht von Verdun fand von Februar bis Dezember 1916 statt. Mindestens 300.000 deutsche und französische Soldaten starben bei dem Gemetzel, weit mehr wurden verwundet. Nach mehreren Monaten des Mordens hatte sich der Frontverlauf kaum verändert. Verdun steht daher für das sinnlose Leiden im Krieg. Noch heute werden dort die Gebeine der Gefallen in den Feldern rund um die Stadt geborgen. Für Touristen gibt es neben zahlreichen Gedenkstätten und Museen auch Führungen über das Schlachtfeld sowie Theaterstücke über die Kämpfe und das Leben der Soldaten. Die Betreiber der offiziellen Tourismus-Seite von Verdun sind sich durchaus über das Interesse der Besucher bewusst und werben daher vor allem mit Stätten des Ersten Weltkrieges.

Tschernobyl: Im April 1986 explodierte nahe der ukrainischen Stadt Pripyat ein Reaktor eines des Atomkraftwerkes Tschernobyls. Die WHO schätzt, dass bis heute weltweit aufgrund der Katastrophe mindestens 4000 Menschen gestorben sind. Zehntausende weitere sollen durch die Strahlung an Krebs erkrankt sein. Mehr als 100.000 Menschen mussten Pripyat und Umgebung Hals über Kopf verlassen. Zurück blieb eine Geisterstadt. Rund 15.000 Touristen besuchten den Ort im vergangenen Jahr. Mehrere Veranstalter bieten Touren durch die Sperrzone, manche sogar mehrere Tage lang. Vor Ort können die Besucher sogar in einer Art Restaurant zu Abend essen. Um gute Fotos machen zu könne, haben Touristen die Gegend im Laufe der Zeit stark verändert. Seien es Puppen, die auf Stühle gesetzt, oder ganze Räume, die umdekoriert wurden. Vieles in Tschernobyl ist mittlerweile hergerichtet.

Costa Concordia: Das Kreuzfahrtschiff lief am 19. Januar 2012 vor der italienischen Isola del Giglio auf Grund. Zur Zeit des Unglücks befanden sich mehr als 4200 Menschen an Bord, darunter etwa 1000 Besatzungsmitglieder. Bei der Katastrophe verloren 32 Menschen ihr Leben. Verantwortlich dafür war der damalige Kapitän Francesco Schettino und Teile seiner Crew. Er fuhr zu nahe an die Insel, wodurch der Rumpf des Schiffes an einem Fels aufgeschlitzt wurde. Nach der Katastrophe sank das Schiff nicht vollständig. Wegen der Großen Nähe zur Küste blieb ein großer Teil weithin sichtbar. Das führte dazu, dass die Touristenzahlen auf der Insel Giglio nach oben schnellten. Nachdem die Bergung im Juli 2014 abgeschlossen war, sanken sie wieder.

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Allein in der ersten Jahreshälfte 2016 besuchten mehr als eine Million Menschen das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz.

Auschwitz: Kaum ein Ort steht so sehr für die Schrecken des Nationalsozialismus wie das Konzentrationslager Auschwitz. Während des Holocaust wurden dort schätzungsweise zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen umgebracht. Die Opfer wurden europaweit gefangen genommen und unter elenden Bedingungen nach Auschwitz transportiert. Heute ist Auschwitz eine der größten Gedenkstätten aus jener Zeit. Das Gelände ist relativ gut erhalten, einige Gebäude rekonstruiert und es gibt ein Museum. Mehr als eine Million Menschen besuchten bereits in den ersten sechs Monaten dieses Jahres den Ort – mehr als jemals zuvor. Trotz der schrecklichen Vergangenheit tauchen aber immer wieder Fotos von Touristen im Internet auf, die sich lächelnd oder mit erhobenen Daumen vor die ehemaligen Baracken gestellt haben.

Killing Fields: Zwischen 1975 und 1979 wurden in Kambodscha Schätzungen zu Folge zwischen einer und zwei Millionen Menschen durch die damals herrschen Roten Khmer umgebracht. Auch nach ihrem Sturz töteten sie Jahrzehntelang weiter tausende Menschen. Um Munition zu sparen, ging man auf die Opfer zum Teil sogar mit Eisenstangen und anderen Gegenständen los. Als Killing Fields werden jene Orte bezeichnet, an denen die politisch motivierten Massenmorden häufig begangen wurden. Mehr als 300 solcher Stätten gibt es heute in Kambodscha. Nach der mittelalterlichen Stadt Angkor Wat sind sie die meistbesuchten Orte in dem Land. Zahlreiche Unternehmen bieten Touristen Bustouren an, die verschiedene Killing Fields abdeckten. Auch das berüchtigte Verhörzentrum S-21 ist heute ein Besuchermagnet.