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Krankheit Zwangsstörung„Viele Betroffene sind absolut unfähig, ihr Leben zu meistern“

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50 Mal am Tag die Hände waschen, das war für Peter Wittkamp in seiner Jugend Alltag (Symbolbild). 

  1. Peter Wittkamp arbeitet als Werbetexter und Gagschreiber. In seinem Alltag geben aber häufig seine Zwänge den Ton an.
  2. Zwangsgestörte wissen, dass sie irrationale Dinge tun, müssen es aber trotzdem machen, um sich beruhigt zu fühlen.
  3. Der Autor spricht offen über seine Zwangsstörung und erzählt, wie sie sein Leben beeinflussen.

Köln – 50 Mal am Tag die Hände waschen, sechs Mal in die Wohnung zurückkehren, um zu schauen, ob der Herd auch wirklich aus ist. Seit seiner Jugend begleiten Peter Wittkamp Zwänge, und er ist von Kontrollgedanken getrieben. Wie es ist, mit dieser Krankheit zu leben, hat der hauptberufliche Gagschreiber in seinem Buch „Für mich soll es Neurosen regnen. Mein Leben mit Zwangsstörungen.” aufgeschrieben. Im Interview erzählt er, warum er sich oft das Schlimmste ausmalt und wie die Krankheit seinen Alltag beeinflusst.

Herr Wittkamp, Sie können nicht ungehindert an einer Bananenschale vorbei gehen, die auf der Straße liegt. Sie müssen sie auf jeden Fall aufheben. Was genau ist daran denn so problematisch?

Peter Wittkamp: Grundsätzlich ist es so: Ich übernehme die Kontrolle über Dinge, die gar nicht in meinem Zuständigkeitsbereich liegen. Ich denke Dinge weiter. Was, wenn jetzt ein anderer die Bananenschale nicht sieht, dann rutscht er darauf aus und stirbt.

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Peter Wittkamp.

Er stirbt gleich?

Wittkamp: Ja. In meiner Vorstellung passiert das Schlimmste. Dieser Gedanke lässt mich dann einfach nicht los. Obwohl das alles übertrieben ist und ich keine Fälle von Menschen in Deutschland kenne, die auf einer Banane ausrutschen und sich das Genick brechen. Es könnte aber mit sehr viel Pech passieren. Ich räume also das Obst weg. Es bleibt aber nicht dabei. Der Kontrollgedanke wird immer stärker, die Anspannung immer größer. Ich muss alles Obst wegräumen.

Über diese Zwänge haben Sie jetzt ein Buch veröffentlicht – und es ist teilweise sehr, sehr lustig geworden. Hätten Sie es ohne Humor gar nicht schreiben können?

Wittkamp: Doch und in manchen Momenten geht es mir schlecht, weil ich denke, ich hätte ernster darüber schreiben müssen, weil die Krankheit sehr ernst ist. Ich bin aber Komiker im Hauptberuf und erkenne, wenn etwas lustig ist. Das will ich dann auch zeigen. Ich sehe es so wie Karl Valentin. Alles hat drei Seiten. Eine positive, eine negative und eine komische.

Worüber müssen Sie denn manchmal lachen?

Wittkamp: Wenn die Situation vorbei ist, denke ich manchmal: Ist schon verrückt, was der Mensch so macht. Man geht zum Beispiel fünf oder sechs Mal zurück in die Wohnung, um zu sehen, ob der Herd wirklich aus ist. Wenn man das Hin und Her mit Benny-Hill-Musik unterlegt, ist das irgendwie lustig.

Sind Sie erleichtert, dass Ihre Krankheit jetzt öffentlich ist?

Wittkamp: Häufig denke ich, dass es die beste Idee der Welt gewesen ist. Und manchmal denke ich, es ist schon unglaublich peinlich. Kommt drauf an, wie es mir gerade geht und auch wo ich darüber rede. In Berlin, wo ich wohne, gilt es als fast schick, eine psychische Krankheit zu haben. Ein Künstler, der keine hat, ist kaum ernst zu nehmen. Das ist natürlich völlig falsch, trotzdem mache ich lieber in Berlin eine Lesung als auf dem Land, wo ich groß geworden bin. Da fühle ich mich eher als Aussätziger.

Hat Ihnen denn keiner die Krankheit angemerkt?

Wittkamp: Es ist sehr schwierig, sie zu erkennen. Betroffene wissen, dass das, was sie tun, unsinnig ist. Das gehört zum Kern der Krankheit – anders als bei anderen psychischen Krankheiten, bei denen man zwischen Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann. Es steckt ja auch ein bisschen Wahrheit in der Befürchtung. Natürlich kann jemand auf der Obstschale ausrutschen und sich das Genick brechen. Man kann auch krank werden, wenn man sich zu selten die Hände wäscht. Aber der Zwangserkrankte hebt hunderte Obstschalen auf. Er wäscht sich hundertmal die Hände. Und weil er weiß, dass es verrückt ist, versteckt er das vor anderen. Ganz viele sind gut darin, Strategien zu entwickeln. Ich habe auch immer behauptet, ich müsste nochmal zurück, weil ich was vergessen hätte oder jemanden anrufen müsste.

Wann haben Sie gemerkt, das Sie keine Macke, sondern eine Krankheit haben?

Wittkamp: Ich hatte einen Waschzwang als Teenager. 50 Mal habe ich mir am Tag die Hände gewaschen. Aber das verschwand einfach irgendwann wieder. Doch später kamen die Zwänge zurück und wurden mehr und mehr und breiteten sich auch auf viele verschiedene Gebiete aus. Bis ich aber ein Muster bei mir erkannt habe, musste viel Zeit vergehen. Die Formel lautet: Sobald der Zwang den Alltag beeinträchtigt, ist es Zeit, einen Experten aufzusuchen. Viele Menschen können nicht mehr vor die Tür treten, weil sie Angst haben, sich anzustecken oder sonstige ungute Gedanken haben. Sie sind absolut unfähig, ihr Leben zu meistern.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Therapeutensuche schwieriger ist als man denkt.

Wittkamp: Es ist nicht unmöglich einen Therapeuten zu finden. Sie müssen sich aber informieren, fragen, telefonieren, Erstgespräche ausmachen. Das ist zwar eigentlich zu schaffen, aber es ist ein Aufwand, dem viele nicht mehr gewachsen sind, weil es ihnen schon zu schlecht geht. Sie müssen andere bitten, ihnen dabei zu helfen.

Wie haben Sie es geschafft?

Wittkamp: Ich habe gemerkt, dass es zu viel ist. Ich habe eine Art Stopp eingebaut. Irgendwann sagte ich mir: Das mache ich nicht mehr mit. Ich meine, es liegt ja nicht nur Obst auf der Straße, sondern auch Hundescheiße, auf der man ausrutschen könnte. Gerade in Berlin. Aber die habe ich jetzt nicht aufgehoben. Ich bin offenbar dann doch gefestigt. Zumindest so, dass ich sagen kann, es reicht und dann hole ich mir Hilfe.

It’s not a bug, it’s a feature, sagen Sie, keine Krankheit, eine Eigenheit. Ist das eine Strategie, mit der Krankheit umzugehen, weil Sie wissen, dass Sie sie sowieso nicht loswerden?

Wittkamp: Ja. Aber es ist eine individuelle Sache. Zwangserkrankungen können gut behandelt werden. Ich glaube aber, es ist schwer, dass man komplett geheilt wird. Man hat eine Disposition und ist immer etwas anfällig dafür. Es kommt sehr lapidar rüber, aber das beste, was man gegen Zwänge machen kann, ist: Einfach nicht machen. Das ist schwer, aber der einzige Weg, den Zwang zu besiegen. Am besten mit Hilfe eines Therapeuten.

Was passiert mit Ihnen, wenn Sie dem Zwang nicht nachgeben?

Wittkamp: Ein Beispiel: Ich bin gerade auf der Buchmesse und schaue auf die Straße. Würde ich jetzt dort einen dicken Stein sehen, müsste ich mir verbieten, ihn aufzuheben. Es ist nicht meine Aufgabe. Andererseits denke ich: Du kannst nicht entspannt über die Buchmesse gehen, wenn du die ganze Zeit an diesen Stein denkst und daran, dass ein Radler drüber fährt und stürzt und… Sie wissen schon. Räum ihn weg, dann hast du deine Ruhe. Es ist also ein sehr starkes Unwohlsein, das man beseitigen will. Und ein starkes Glückserlebnis, wenn man es beseitigen kann. Das gilt aber nur kurzfristig. Man muss wieder lernen, darauf zu vertrauen, dass schon alles gut gehen wird.

Sie haben erzählt, dass Sie manchmal laut aussprechen, was der Zwang von Ihnen will.

Wittkamp: Das kann helfen. Das kommt natürlich auf die Schwere der Krankheit an. Aber wenn man mit jemanden darüber offen redet oder es selbst laut ausspricht, dass man bei jeder Bananenschale an den Tod denkt, merkt man: Ich übertreibe maßlos. Dann lasse ich die Schale liegen. Das hilft ja übrigens auch bei normalen Leuten, die ansatzweise magische Gedanken haben.

Magische Gedanken?

Wittkamp: Neben dem Kontrollzwang leide ich auch unter magischen Gedanken. Das kennen wir alle, wenn wir an ein Unglück denken, und dann auf Holz klopfen, damit es nicht passiert. Eigentlich völlig irrational, aber es beruhigt ein bisschen. Genau so funktionieren Zwänge und magisches Denken. Es gibt unendlich viele Varianten. Wenn ich diese Nudeln kaufe, dann passiert etwas Schlimmes mit Onkel Volker und so weiter. So etwas kann sehr zwanghafte Ausmaße annehmen.

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Gehen die Menschen heute anders mit Ihnen um?

Wittkamp: Mir schreiben viele Leute, dass sie selber betroffen sind. Es ist befreiend für mich zu sehen, dass viele kluge Menschen um mich herum auch unter Zwängen leiden. Sie sind analytisch, aber machen trotzdem so einen Quatsch. Schön ist, dass ich meine Krankheit nicht mehr verstecken muss. Ich muss mir keine Ausreden mehr einfallen lassen.

Die Zwänge haben auf fast faszinierende Art Ihre Kreativität herausgefordert. Würde Ihnen ohne sie etwas fehlen?

Wittkamp: Der Zwang hat mich sehr erfinderisch gemacht. Ich habe getäuscht, getrickst, mich zum Beispiel als Vereinsmitglied ausgegeben, um einen Handwerker zu beauftragen, ein Schlagloch zu reparieren. Der Druck ist einfach verdammt groß. Wenn der weg wäre, würde mir in der Tat etwas fehlen, weil er Teil meiner Identität geworden ist. Aber eher so, wie mir ein dicker Tumor am Bein fehlen würde, den ich lange hatte. Es wäre komisch, aber es ginge mir besser. Aber ich mache mir da keine große Hoffnung.

Sie schreiben, dass Einsamkeit die Krankheit begünstigen kann.

Wittkamp: Ich bin in einer Beziehung, das ist sehr hilfreich. Ich merke grundsätzlich, je mehr ich unter Leuten bin, desto besser geht es mir. Einsamkeit kann ein Faktor sein, der diese Krankheit verstärkt. Es gibt keinen, der ablenkt, korrigiert oder hilft.

Sie waren in der Psychiatrie. Danach war das Schlimmste vorbei, aber die Probleme sind noch da. Wie geht es jetzt weiter?

Wittkamp: Ich bin jeden Tag im Training. Jeden Tag muss ich mir überlegen, wie ich mit den Erpressungen des Zwangs umgehen muss. Die Zwänge wollen meine Aufmerksamkeit und je weniger ich ihnen gebe, desto besser. Ich finde immer bessere Möglichkeiten, damit zu leben.

Zum Weiterlesen: Peter Wittkamp: „Für mich soll es Neurosen regnen. Mein Leben mit Zwangsstörungen”, btb Verlag, 18 Euro