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„Blutungen nicht vorhersehbar“Wie der 25-jährige Linus mit dem seltenen Von-Willebrand-Syndrom lebt

Lesezeit 5 Minuten
Ein junger Mann steht auf einer Beton-Brüstung, im Hintergrund ist der Lindenthaler Kanal zu sehen.

Linus ist 25 Jahre alt, das von Willebrand Syndrom begleitet ihn von Geburt an.

Linus lebt mit einer sehr seltenen Gerinnungsstörung. Ein Arzt aus Köln begleitet ihn dabei seit 15 Jahren. Was die Krankheit ausmacht.

Einmal wollte er doch wissen, wie es ist, mit 220 Kilometern in der Stunde mit dem Motorrad zu fahren. „Da denkt man schon, wenn ich jetzt einen winzigen Moment unaufmerksam bin, ist es vorbei.“ Der 25-Jährige, der das sagt, kennt sich aus mit Mopeds. Linus M. ist Zweirad-Mechatroniker und liebt alles, was Motoren hat. „Ich war schon in der Schule immer eher einer, der gerne etwas mit den Händen gemacht hat.“

Der Job als Schrauber war nach dem Fach-Abi die logische Folge. Dass er eine chronische Krankheit hat, davon hat er seinem Chef beim Einstellungsgespräch aber erstmal nichts erzählt. Linus M. leidet am Von-Willebrand-Syndrom (VWS), einer Blutgerinnungsstörung, die in den meisten Fällen vererbt wird.

Von-Willebrand-Syndrom: Häufig blaue Flecken und Nasenbluten

„Ich bekam schon als Kleinkind die Diagnose. Meine Oma hat die Krankheit und hat häufig größere blaue Flecken und Nasenbluten, mein Bruder auch, aber er hat eigentlich, anders als ich, keine größeren Probleme“, erzählt der Düsseldorfer, der regelmäßig zu seinem Arzt nach Köln fährt. Dr. Kai Severin kennt ihn seit 15 Jahren. Die beiden duzen sich.

Severin ist Hämostaseologe, Facharzt für Blutgerinnungsstörungen. „Wenn 50.000 Menschen im Kölner Stadion sitzen, haben statistisch etwa 500 ein VWS, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung“, sagt er. Das ist ein Prozent der Bevölkerung.

Ein Mann mit grauem Haar steht neben auf einer Mauer hockenden jüngeren Mann.

Berater und Arzt: Dr. Kai Severin mit seinem Patienten Linus aus Düsseldorf.

Bei vielen Betroffenen bleibt die Krankheit unbemerkt, weil sie symptomlos verläuft. Bei Linus nicht. Schon mit zwei Jahren wurde er diagnostiziert. Die Veranlagung wird in seiner Familie vererbt. Das VWS kann aber auch in Zusammenhang mit bestimmten Krankheiten als Autoimmunerkrankung erworben werden.

Von-Willebrand-Syndrom: Verringerte Aktivität eines bestimmten Eiweißes

Beim Von-Willebrand-Syndrom, nach dem finnischen Internisten Erik Adolf von Willebrand (1870–1949) benannt, ist die Aktivität eines bestimmten Eiweißes, auch Von-Willebrand-Faktor genannt, verringert. Dieser spielt aber als Trägerprotein des Blutgerinnungsfaktors VIII eine wichtige Rolle bei der Blutstillung und führt so bei den betroffenen Patienten zu einer ungewöhnlichen Blutungsneigung. „Beim Schrauben in der Werkstatt hole ich mir schon mal Schürfwunden, dann braucht es halt seine Zeit, bis die Blutung stoppt“, erzählt Linus M.


Die Deutsche Hämophilie-Gesellschaft bietet Informationen zum Von-Willebrand-Syndrom und anderen Blutgerinnungserkrankungen | Einen Selbsttest speziell zum VWS gibt es auf der Seite des Netzwerks-von-Willebrand.


„Da muss ich dann erstmal ein bisschen warten und etwas auf die Wunde drücken.“ Schlimmer als die Alltagsverletzungen bei der Arbeit sind in seinem Fall aber häufiges Nasenbluten und Darmblutungen. Das VWS betrifft häufig die Schleimhäute. „Als Kind hatte ich meine erste schwere Darmblutung. Die machte sich mit Blut im Stuhl, starken Bauchkrämpfen und allgemeinem Unwohlsein bemerkbar.“ Schon mit 13 Jahren musste er zu seiner ersten Darmspiegelung.

„Die Gefahr ist halt immer da, dass da noch etwas Schlimmeres sein kann“, sagt Linus, der sich von seiner chronischen Krankheit nicht ausbremsen lassen möchte. Seit er 14 ist, geht er ins Fitnessstudio, als Teenager hat er Breakdance gemacht. „Auch wenn ich mich oft schlecht gefühlt habe, wollte ich das vor meinen Freunden nicht raushängen lassen, keine Extrawurst haben.“ Eine Zeitlang habe er seine Krankheit ignoriert. „Das Nervige ist, dass die Blutungen nicht voraussehbar sind. Manchmal habe ich nachts auf einmal Nasenbluten. Es ist also nicht so, dass das beim Joggen unter Belastung passiert, sondern spontan.“

Linus leidet unter häufigem Nasenbluten und Darmblutungen

Inzwischen hat er sich mit seiner Krankheit arrangiert. Sein Arzt Dr. Kai Severin hat ihn mit einem Medikamenten-Vorrat ausgestattet, der Linus durch den Alltag bringt. „Wenn ich merke, dass der Faktor scheiße ist, nehme ich halt Tabletten.“ Tatsächlich muss er diese regelmäßig nehmen, denn fast im Wochenrhythmus blutet Darm, Nase oder Zahnfleisch. Gegen das Nasenbluten hat er auch ein spezielles Nasenspray. „Linus kann sich dank der Medikamente sehr gut selbst steuern. Er braucht eigentlich ganz wenig Arzt, aber wenn mal etwas ist, können wir auch immer schnell mal telefonieren“, sagt Gerinnungsexperte Kai Severin.

Ein junger Mann sitzt an einem Tisch. Sein aufgestützter Arm ist von oben bis unten tätowiert.

Linus hat zahlreiche Tätowierungen. Seine Mutter und sein Arzt haben ihn vergeblich davor gewarnt.

Linus selbst will sein Leben führen, wie er es sich vorstellt, ohne Rücksicht auf seine Krankheit. Dazu gehören auch seine Tattoos. Nicht nur am Hals und am Arm hat er sie sich stechen lassen, auch der ganze Rücken ist ein Kunstwerk. „Als ich 18 war, habe ich damit angefangen. Meine Mutter war nicht begeistert, aber ich habe auch aufgepasst, dass es mir an den jeweiligen Terminen gut geht. Wenn ich merke, dass ich an dem Tag Probleme habe, sage ich ab. Ich will ja nicht in einer Blutlache enden. Und natürlich weiß auch mein Tätowierer Bescheid über meine Blutgerinnungsproblematik.“

Medizinisches Personal und Ärzte kennen das Von-Willebrand-Syndrom oft nicht

Bescheid über die Krankheit wissen allerdings häufig nicht einmal Ärzte oder medizinisches Personal. Deshalb hat Kai Severin Linus einen speziellen Notfallausweis ausgestellt. „Ich hatte einmal einen Auffahrunfall. Ich stand mit dem Roller vor einer roten Ampel und ein Auto fuhr in mich rein. Ich hatte Prellungen und Schürfwunden, im Rettungswagen konnte ich dem Sanitäter noch sagen, dass ich einen Notfallausweis im Portemonnaie habe. Wäre ich schlimmer verletzt gewesen, hätte das übel ausgehen können.“

Ein älterer und ein jüngerer Mann stehen nebeneinander auf einer Mauer über dem Lindenthaler Kanal.

Pflegen ein vertrauliches Arzt-Patienten-Verhältnis: Dr. Kai Severin und Linus

Denn bei Operationen, auch kleineren wie Zahnextraktionen, kann es zu sehr starken Blutungen kommen. Für geplante Operationen schreibt Kai Severin seinen Patienten einen Substitutionsplan für bestimmte, aus Blutplasma oder gentechnisch hergestellte Gerinnungsfaktoren. Das Krankenhaus muss diese dann entsprechend bereithalten und dem Patienten spritzen. Passiert das nicht, kann es zu unkontrollierten Blutungen und den damit verbundenen Gefahren für den Patienten kommen. Linus wünscht sich, dass Ärzte und Sanitäter Bescheid wissen über die Krankheit. Und alle anderen am besten auch.

„Viele haben ein totales Fragezeichen im Gesicht, wenn ich ihnen erkläre, was ich habe.“ Dass häufiges Nasenbluten oder extreme Regelblutungen Anzeichen für ein Von-Willebrand-Syndrom oder eine andere Blutgerinnungsstörung, wie eine Hämophilie, sein können, auch dafür möchte er sensibilisieren. Und wünscht sich einen coolen Umgang mit Betroffenen. Seinem Chef hat er dann zwei Monate später erzählt, was mit ihm los. Für ihn macht die Krankheit seines Angestellten keinen Unterschied. Im Gegenteil. Vermutlich übergibt er ihm eines Tages sogar seine Werkstatt.