Abstände werden nicht eingehalten, Masken nur nachlässig getragen. Warum nehmen viele Menschen das Corona-Risiko nicht mehr ernst?
Dass das Risiko kalkulierbar ist, sei eine klassische Denkfalle, erklärt Thorsten Kienast in einem Doppelinterview mit Frank Elstner.
Der Psychiater hat mit dem TV-Moderator ein Buch über unser Denken geschrieben. Gemeinsam geben sie Tipps, wie man unliebsame Verhaltensweisen ändert.
Die Corona-Krise hat unser Leben mächtig auf den Kopf gestellt. Am Anfang der Pandemie waren Angst und Verunsicherung vorherrschende Gefühle. Mittlerweile sehen wir volle Straßen, wenig Abstand und Masken, die nur über dem Mund getragen werden. Wie kommt das? Was passiert da in unserem Gehirn?Thorsten Kienast: Hier geschehen mindestens zwei Dinge im Gehirn. Die Bilder aus Italien oder New York haben dafür gesorgt, dass wir uns präventiv verhalten. Ein Schutzverhalten einhergehend mit dem zeitgleichen Abbau von gegenläufigen, naiven oder rebellischen Verhaltensweisen. Zum anderen neigen Menschen nach einer Weile dazu, ihr Verhalten, gemessen an den gemachten Erfahrungen, abzustimmen. Heißt: Kann das Gehirn nicht auf schwere Erkrankungserfahrung durch Covid-19 zurückgreifen, stuft es das Risiko als gering ein. Ein Grund dafür ist, dass wir die Begriffe wie Corona oder Covid-19 und die wiederkehrenden Nachrichten und die vermeintliche Gefahr, die nicht als solche erlebt worden ist, verknüpft haben. Das führt dazu, dass viele Menschen die Maske unter die Nase rutschen lassen, sie am Kinn tragen und die Abstände schmelzen.
Die Gefahr wird von unserem Gehirn unterschätzt, weil sich das Risiko kalkulierbar anfühlt. Diese Denkweise entspricht psychologisch betrachtet der klassischen Denkfalle „emotionale Beweisführung“: „Ich fühle mich dick, also bin ich dick.“ Oder auf die Corona-Krise angewendet: „Ich fühle, dass keine Gefahr besteht, also besteht keine Gefahr.“ Um die Menschen vor dieser Denkfalle zu schützen, schreitet der Gesetzgeber ein und verhängt Bußgelder. Weil dieser Denkfehler von den Betroffenen nicht erkannt wird, reagieren sie mit Unverständnis und die Situation heizt sich auf.
Ein Großteil der Bevölkerung scheint vom Krisen-Modus in den Sorglos-Modus gewechselt zu sein. Die alte Normalität wieder zu bekommen, scheint wichtiger zu sein, als sich mit der Situation zu arrangieren beziehungsweise zu akzeptieren, dass wir uns auf eine neue Normalität einstellen müssen. Wie blicken Sie darauf, Herr Elstner?
Frank Elstner: Ich bin beunruhigt, weil die Sorglosen und die Personen, die gegen die Einhaltung der Maßnahmen für den Infektionsschutz demonstrieren, ein Verhalten zeigen, dass einer großen Gruppe von Menschen die Last schwerer gesundheitlicher Folgen aufbürdet. Ganz besonders betroffen sind die medizinisch Vorerkrankten und die Älteren.
Lässt sich dieses Verhalten mit der Funktion unseres Gehirns erklären, Herr Kienast?
Thorsten Kienast: Gehirne mögen Veränderungen nicht, wenn sie gefühlt zum Nachteil sind. Ist der Ausgangszustand also ausreichend angenehm, möchte das Hirn diesen Zustand erhalten – zumindest aber nicht verschlechtern. Es verändert nur etwas, wenn es durch Not oder zur Steigerung des Komforts zwingend notwendig ist. Dabei spielen unser Belohnungssystem „Nucleus accumbens“ und das „Dorsale striatum“, die Region im Hirn, in der sich viele unserer Gewohnheiten eingenistet haben, eine wichtige Rolle. Auf die Pandemie angewendet: Viele Menschen hatten vor der Krise ein eingespieltes, gar akzeptables Leben. Gewohnheiten geben den Menschen ein Gefühl von Kontrolle. Eine kollektive, so umfassende Änderungskette wie in der Corona-Krise wirkt sich auf die beiden genannten Hirnregionen aus, die sich nun beginnen aufzulehnen und gegenzuarbeiten.
Attention Training Technique
Die „Attention Training Technique“ dient vor allem dazu, dass Menschen in der Metakognitiven Therapie die Erfahrung machen können, dass sie selbstständig entscheiden können, worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenken. Ziel dieser Technik ist es, dass Aufmerksamkeitsressourcen wiedererlangt werden. Das ermöglicht die Entwicklung von alternativen Strategien, um mit Ereignissen umzugehen. Die Technik wird bei emotionalen Störungen eingesetzt.
Sie geben in Ihrem Buch auch Tipps, wie man verschiedene Krisen im Leben besser bewältigen kann. Herr Elstern, welche Ratschläge können Sie unseren Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben?
Frank Elstner: Einen ganz praktischen zur Lektüre unseres Buches. Dort wird immer wieder die Gelegenheit gegeben, aufgrund des Gelesenen Übungen zu machen. Wer sich Zeit für die Aufgaben nimmt, wird feststellen, dass bei der Vertiefung ein wunderbares Gefühl der Selbsterkenntnis aufkommt. Das mit dem wunderbaren Gefühl der Selbsterkenntnis hat mich hellhöriger gemacht, als ich vorher war. Und eigentlich ist das eine Art Spurensuche zum verständnisvollerem Umgang mit sich selbst.
Können wir es auch schaffen, dass wir uns in Krisen weniger Sorgen machen? Weniger grübeln?
Thorsten Kienast: Man kann sich auf Krisen vorbereiten, indem man interessiert über den eigenen Tellerrand hinausblickt und sich eine Kultur des neugierigen Beobachtens angewöhnt. Der Gewinn ist, dass recht bald klar wird, dass andere Denkweisen zu neuen Lösungswegen führen. Auch Methoden aus der Verhaltensforschung wie die „Attention Training Technique“ (siehe Kasten) aus der Metakognitiven Therapie nach Adrian Wells, oder des Perspektivenwechsels können dabei helfen. Aber wir müssen unser Gehirn trainieren, um uns weniger zu sorgen oder zu grübeln. Das ist wie beim Memory spielen oder wie im Fitnessstudio – ein Aufwand der sich sehr lohnt.
Viele Dinge waren vor der Pandemie quasi undenkbar. Viele Arbeitgeber haben sich etwa gegen Homeoffice gesperrt. Jetzt merken viele Unternehmen, dass Homeoffice doch funktionieren kann. Wie können wir es schaffen, dass wir solche positiven Aspekte mitnehmen? Sie dauerhaft verändern?
Thorsten Kienast: Wichtig ist es, eine systematische Auswertung der neuen Situation zu machen. Nicht nur einmal, sondern fortlaufend – beispielsweise alle drei Monate. So können Vor- und Nachteile neuer Strategien erkannt und geeignete Ergebnismessungen der Arbeitsleistung des Einzelnen und des Teams etabliert werden. Und die Lebensqualität muss berücksichtigt werden. Die neuen Errungenschaften der Corona-Zeit können erst dann zukunftsweisend, klug eingesetzt eine tolle Flexibilität für alle werden.
Wir befinden uns in einer Zeit, in der es gilt, Lösungen zu finden und im einen oder anderen Punkt auch das eigene Verhalten zu hinterfragen und zu verändern. Nehmen wir als Beispiel das Vorhaben, nachhaltiger zu leben und etwa weniger Fleisch zu essen. Wie gelingt es uns, unser Handeln zu hinterfragen und wie kann man es schaffen, nicht nach zwei Wochen wieder aufzugeben?
Thorsten Kienast: Wenn das neue Verhalten täglich über acht Wochen ohne Ausnahmen – aber im realistischen Format geplant – durchgehalten wird, dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Grundstein für eine neue Gewohnheit gelegt worden ist. Und dann geht es täglich einfacher.
Was, wenn ich mir immer wieder vornehme, etwas zu ändern und davon spreche, es aber nie umsetze. Wo liegt da das Problem?
Thorsten Kienast: Das ist einfach. Entweder ich nehme mich in meinem Vorhaben nicht ernst, ich habe meine Motivatoren falsch gesetzt, eine schlechte Planung für die Umsetzung gemacht oder aber ich habe mir ein Umfeld gesucht, dass einfach nicht mitreißt. Viele Menschen verlieren sich in Wunschdenken, ohne bereit zu sein, etwas umzusetzen oder den passenden Rahmen dazu zu bauen. Gesellschaftlich scheint verankert zu sein, dass bei Motivationsproblemen der „Knoten platzen muss“, statt der Wahrheit ins Auge zu schauen und durch das schwierige Gefühl des „Ich schaffe es nicht / ich will es nicht“ zu schreiten, bis es sich abschwächt und auflöst.
Herr Kienast, Sie erklären in Ihrem Buch, dass wir mit steigendem Alter weniger ausprobieren, weil wir denken, dass wir schon wissen wie es sein wird. Woran liegt das?
Thorsten Kienast: Wenn der Verstand der Meinung ist, dass er sich ausreichend auskennt, versucht er alle Situationen mit den Mitteln zu bewältigen, die er an Bord hat. Dieser Effekt nimmt bei steigendem Alter zu. Das Belohnungssystem strebt nach einer bequemen Lösung und neigt dazu, nur in Situationen, die belohnend oder stark beängstigend sind, neue Aktivität zu erzeugen. In unbequemen, aber doch erträglichen Situationen denken wir nicht um. So ticken die meisten Menschen.
Herr Elstner, Sie scheinen da eine Ausnahme zu sein. Sie haben sich über Ihre ganze Karriere ein Stück Jugendlichkeit bewahrt, probieren immer wieder neue Dinge aus – wie Ihr Format „Wetten das War’s…?“ auf Netflix oder nun dieses Ratgeberbuch. Wie schaffen Sie das?
Frank Elstner: Ich habe fünf Kinder im Alter von 22 bis 55 Jahren, die immer wieder dafür gesorgt haben, dass Papa auf dem Laufenden bleibt.
Herr Elstner, durch die Arbeit an dem Buch haben Sie sich ja intensiv mit unserem Kopf und was darin vorgeht beschäftigt. Was hat Sie am meisten beeindruckt oder überrascht?
Frank Elstner: Eigentlich bin ich ein verhältnismäßig ungeduldiger Mensch, deswegen überrascht es mich, dass ich mit der Beschäftigung mit den Thesen von Professor Thorsten Kienast geduldig geblieben bin und auf diese Weise Platz gemacht habe für neue Erkenntnisse. Und es stimmt die alte Binsenweisheit: Man lernt nie aus!
Herr Elstner, Herr Kienast, vielen Dank für das Gespräch.