AboAbonnieren

Binge-Eating„Ich habe gegessen, bis mir schlecht war – und dann noch weiter”

Lesezeit 8 Minuten
Neuer Inhalt

Menschen mit einer Binge-Eating-Störung haben regelmäßig Essanfälle, bei denen sie große Mengen an Lebensmitteln essen (Symbolfoto). 

  1. Essen als Seelentröster kennen viele Menschen, doch ab und an eine Heißhungerattacke ist noch lange keine Binge-Eating-Störung.
  2. Wer darunter leidet, fährt nachts an die Tankstelle, um sich Essens-Nachschub zu organisieren.
  3. Drei betroffene Frauen berichten, wie solche Essanfälle jahrelang ihr Leben bestimmt haben und wie sie mit Hilfe der Selbsthilfegruppe „Overeaters Anonymous” heute relativ normal essen können.

Köln – Tütenweise Essen in sich hineinschlingen, nachts zu noch geöffneten Imbissen oder Tankstellen fahren, um Essen zu kaufen, alle 20 Joghurts aus dem Kühlschrank auf einmal essen. Solche Essattacken waren für Erika, Maria und Julia (Namen von der Redaktion geändert) über Jahre hinweg Alltag. Die drei Frauen haben eine Binge-Eating-Störung, Essen hat in ihrem Leben lange die Hauptrolle gespielt.

Heute haben die Frauen keine Essanfälle mehr, dank der Hilfe der „Overeaters Anonymous“ (OA). Die Selbsthilfegruppe funktioniert nach dem Prinzip des „12-Schritte-Programms“ der Anonymen Alkoholiker und will Menschen dabei helfen, sich von einem zwanghaften Essverhalten zu befreien – von der Magersucht bis zur Binge-Eating-Störung.

Der englische Begriff „binge“ bedeutet so viel wie ein Gelage. Menschen mit einer Binge-Eating-Störung haben regelmäßige Essanfälle, bei denen sie große Mengen an Lebensmitteln in einer kurzen Zeit essen beziehungsweise schlingen, weiß Karin Reupert. Sie ist Sozialpädagogin und Sozialtherapeutin und hat vor knapp 30 Jahren den Verein „Waage“ gegründet – ein Fachzentrum für Essstörungen in Hamburg.

800.000 bis 2,4 Millionen Menschen in Deutschland haben laut Schätzungen eine Binge-Eating-Störung. Trotz der recht hohen Zahl ist die Essstörung eher unbekannt. Das liege daran, dass Betroffene oft erst spät Hilfe suchen. Sie denken, dass sie sich nur zusammenreißen müssten, weil andere Menschen es schaffen, regelmäßig und kleine Portionen zu essen. Auch das Umfeld ist meist nicht so schnell alarmiert, wie beispielsweise bei einer Magersucht. „Betroffene haben häufig ein niedriges Selbstwertgefühl“, erklärt die Expertin.

Essen als Seelentröster

Essen als Seelentröster kennen viele Menschen – ein Stück Schokolade, das über den stressigen Tag hinweghelfen soll. Doch eine Binge-Eating-Störung sei nicht mal ansatzweise mit Frustessen vergleichbar. Das Frustessen kann man sich verkneifen. Binge-Eater haben über ihre regelmäßigen Essanfälle keine Kontrolle, erklärt Karin Reupert.

Essstörungen bestimmen das ganze Leben. Die Gedanken kreisen ständig um das Thema Essen: „Was kann ich essen? Wann kann ich essen? Wann gehe ich Lebensmittel einkaufen? Sind genügend Lebensmittel im Haus?“ Wenn solche Fragen einen großen Raum und viel Lebensenergie beanspruchen, ist Essen nicht nur ein Thema, sondern jemand ist essgestört.

Essen gibt den Takt im Leben der essgestörten Frauen vor

Maria, Julia und Erika wissen, wie es ist, wenn Essen zur Hauptsache wird – jahrelang hat es den Alltag und das ganze Leben der Frauen bestimmt. Zu den Treffen der OA gehen die Frauen schon über zehn Jahre lang. Alle drei sind in der Nachkriegsgeneration geboren – ihre Eltern sind stark durch die Erlebnisse im Krieg geprägt. Rückblickend erkennen die Frauen, dass bereits in ihren Familien das Thema Essen eine große Rolle gespielt hat und sie seit der Kindheit ein gestörtes Verhältnis dazu haben. „Ich habe bei meiner Tante Marzipanschweinchen den Hintern abgebissen und sie wieder in die Packung gesteckt“, berichtet Maria. Auch als Erwachsene hat Maria hauptsächlich Lebensmittel mit viel Zucker wie Schokolade, Gummibärchen oder Kuchen in großen Mengen gegessen.

Auch Erika war bei ihren Essanfällen auch auf zuckerhaltige Lebensmittel fokussiert. „Mir die Süße des Lebens über Zuckerprodukte zu holen, das habe ich in meinem Elternhaus gelernt. Über Essen wurde alles in meiner Familie definiert.“ Sie habe gelernt, auf das Leben mit Essen zu reagieren. „Dieser innere Druck, wenn der zu stark wurde, dann ist im Kopf nur das Thema Essen aufgetaucht“, sagt Erika. Eine andere Lösung für ihre Probleme und Emotionen habe sie lange nicht gekannt.

Ursachen der Binge-Eating-Störung

„Essstörungen sind immer ein Zeichen, dass die Seele in großer Not ist“, erklärt Expertin Reupert. Traumatische Erlebnisse wie Missbrauch oder Übergriffe, nicht bewältigte Verlustsituationen und häufig auch andere psychische Krankheiten, zum Beispiel Depressionen, zählen zu den Ursachen für eine Binge-Eating-Störung.

Erika beschreibt, dass sie lange Zeit Angst vor dem Leben hatte und nie gelernt hat, Gefühle wie Wut und Trauer zuzulassen. „Ich habe nur gelernt, all meine Gefühle zu schlucken, denn von meinen Bedürfnissen wollte in meiner Familie niemand etwas hören.“

Für Julia hat Essen lange Stress bedeutet. Sie vermutet, schon als Kind eine Lebensmittelunverträglichkeit gehabt zu haben. Ihre ständigen Bauchschmerzen habe aber niemand mit Nahrungsmitteln in Verbindung gebracht. Ihre Mutter sei stark traumatisiert und magersüchtig gewesen. Ihr Vater sei alkoholsüchtig gewesen.

Bei Essanfällen verlieren Betroffene die Kontrolle

Essen verbindet Maria heute noch mit den Streitgesprächen ihrer Eltern und hat deswegen teilweise das Bedürfnis, „das Essen schnell hinter sich zu bringen“. Bis Maria ihre Essstörung diagnostiziert wurde, hatte sie wegen ihrer psychischen Probleme bereits mehrere Psychiatrieaufenthalte hinter sich. Erst bei der Selbsthilfegruppe hat sie sich verstanden gefühlt. Weil sie Menschen getroffen hat, die wissen, wie es sich anfühlt, eine Essattacke zu haben. „Das sind einfach zwanghafte Handlungen. Die Menge wird total ausgeblendet – alles ist außer Kontrolle“, beschreibt Julia einen Essanfall.

Maria schildert: „Ich habe gegessen, bis mir schlecht war. Wenn mir nicht mehr so schlecht war, habe ich nachgeschoben.“ Auch Erika hat so viel gegessen, dass ihr von den Mengen übel wurde und sie Bauchschmerzen hatte. „Ich habe weiter gegessen, um mit den Bauchschmerzen umgehen zu können“, sagt Erika.

Essstörungen als Bewältigungsstrategie für Probleme

„Betroffene leiden sehr stark bei und nach den Essanfällen“, weiß Karin Reupert. Gegessen wird unabhängig von einem Hungergefühl. Wann gegessen wird und wann nicht, ist vom psychischen Befinden abhängig. „Die Essattacken treten auf, weil Betroffene merken, dass Situationen, die sie nicht oder nur schwer bewältigen können, durch das Essen aushaltbarer werden.“

Gleichzeitig sind die Attacken mit einem hohen Schamgefühl verbunden, warum viele Menschen sie verheimlichen. „Viele Betroffene ziehen sich auch aus dem Sozialleben zurück, weil das Essen und die Organisation von Essanfällen oft an erster Stelle stehen und Verabredungen mit Freunden oder andere Aktivitäten in den Hintergrund geraten“, sagt Reupert.

Essen fungiert als Beruhigungsmittel

In Erikas Familie ist Angst ein großes Thema. Schon als Kind wächst sie sehr isoliert auf, weil ihre Eltern sie vor der gefährlichen Welt beschützen wollen. Gutes, reichliches Essen steht dagegen im Vordergrund. In ihrem Erwachsenenleben ändert sich das zunächst nicht. „Ich habe früher Kontakte außen vor gelassen. Mein Mann musste immer alleine zu unseren Freunden gehen“, erzählt Erika. Stattdessen ist sie zu Hause geblieben und hat tütenweise Essen alleine konsumiert. „Ich habe mich wirklich isoliert. Ich habe das Leben gar nicht genießen können. Ich habe mich im Essen wohler gefühlt, da kannte ich mich aus – das hat mir Sicherheit gegeben.“

Maria sagt, dass Essen für sie ein Beruhigungsmittel war. Julia ergänzt: „Essen ist sehr schnell verfügbar und man merkt sofort, wie Essen bei belastenden Emotionen wirkt. Zum Beispiel bei Liebeskummer, man macht den Kühlschrank auf, isst und die Emotion wird betäubt.“ Es tauchen zwar durch das Überessen andere Probleme wie Bauchschmerzen oder Schamgefühl auf, aber das primäre, belastende Gefühl sei erstmal weg, beschreibt Julia.

Das könnte Sie auch interessieren:

Binge-Eater sind nicht zwangsläufig übergewichtig

Dass jemand eine Binge-Eating-Störung hat, ist für das Umfeld nicht einfach zu erkennen, da Betroffene nicht zwangsläufig übergewichtig sind und ihre Essanfälle meist nicht offen zeigen, erklärt Karin Reupert. Betroffene halten oft phasenweise strenge Diäten, um ihr Gewicht zu halten oder zu reduzieren. Dass Binge-Eater auch Bulimie haben, käme selten vor. Bis sie zu den OA gekommen sind, haben Erika, Maria und Julia in ihrem Leben viele Diäten gemacht. „Ich habe sämtliche Diäten gemacht, die es gab und habe auch immer einen JoJo-Effekt erlebt. Von Kleidergröße 34 bis 46 war alles dabei“, sagt Maria.

„Overeaters Anonymous“ arbeiten mit zwölf Schritten

Durch das „Zwölf-Schritte-Programm“, die Werkzeuge und die Gespräche in der Selbsthilfegruppe haben Maria, Julia und Erika heute keine Essanfälle mehr. Bei den Schritten gehe es anfangs darum, zu sehen, dass man dem Essen gegenüber machtlos ist und es nicht kontrollieren kann. Im letzten Schritt ist es wichtig, sein Wissen an andere weiterzugeben. Das funktioniert mit sogenannten Sponsoren: Erfahrene Gruppenmitglieder sind Ansprechpartner für Neulinge.

Sie helfen ihnen einen Essensplan zu erstellen, hören bei Fragen zu und unterstützen ihren Schützling. Die „Overeaters Anonymous“ arbeiten nicht mit Therapeuten oder anderen Institutionen zusammen. Es werden auch keine Therapeuten empfohlen, erklärt Erika.

Kontakt zur Selbsthilfegruppe „Overaters Anonymous”

Die Selbsthilfegruppe „Overaters Anonymous” wurde 1960 in den USA gegründet. In Deutschland gibt es seit 1978 Gruppen.

Im deutschsprachigen Raum gibt es rund 130 Gruppen. Eine Übersicht mit Kontaktadressen finden Sie hier. Weitere Informationen zum Programm der OA hier.

In Köln, Marsilstein 4-6, informiert auch die Selbsthilfe-Kontaktstelle über die Selbsthilfeangebote vor Ort. Weitere Informationen hier.

Zuckerhaltige Lebensmittel wie Kuchen, Gummibärchen oder Schokolade haben Erika und Maria allerdings bis heute noch von ihrem Speiseplan gestrichen. „Schokolade war meine Droge“, sagt Maria. Sie könne nie nur ein „Rippchen“ der Tafel essen.

Essstörungen lösen suchtähnliche Symptome aus

Essstörungen sind psychosomatische Erkrankungen mit einem Suchtcharakter, weiß Reupert. „Das Problem beim Essen ist, dass es suchtähnliche Symptome gibt, wie den Kontrollverlust. Betroffene können aber nicht komplett auf Essen verzichten, denn sie brauchen ja Nahrung, um leben zu können.“

Die Folgen einer Binge-Eating-Störung für Körper und Seele sind groß: „Reduktion der Lebensqualität, und eine eingeschränkte Teilnahme am sozialen und gesellschaftlichen Leben. Sind Betroffene übergewichtig, sind sie häufig auch Mobbing ausgesetzt. Denn Übergewicht ist in unserer Gesellschaft ein heikles Thema. Selbsthass und Ekel vor sich selbst kommen bei Betroffenen häufig vor“, schildert Reupert.

Therapie für Körper und Geist

Auch körperlich können Betroffene unter dem Übergewicht leiden. Für den Körper ist es bei den Essanfällen eine große Anstrengung, die extremen Mengen an Lebensmitteln und Kalorien zu verarbeiten. Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine Überlastung des Gelenksystems sind häufige Probleme.

Behandelt werden müssen bei dieser Essstörung deshalb die körperlichen und psychischen Probleme, weiß die Expertin. Eine Psychotherapie mit dem Ziel, die Essattacken durch andere Bewältigungsstrategien zu ersetzen, gepaart mit einer ergänzenden Ernährungsberatung, sind laut Karin Reupert wichtig.