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„Fomo“Was die ständige Angst, etwas zu verpassen, mit mir macht

Lesezeit 9 Minuten
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Ständig online, ständig präsent - und doch nirgendwo so richtig dabei.

  1. Die permanente Angst, etwas zu verpassen, betrifft vor allem jüngere Menschen, die mit explodierenden Möglichkeiten in allen Lebensbereichen konfrontiert sind.
  2. Auch unser Autor leidet unter dieser Angst, die unter dem Begriff „Fomo” firmiert. Er schildert, wie er regelmäßig daran verzweifelt und nach welchen Lösungen er sucht.
  3. Wer besonders häufig von Fomo betroffen ist, darüber haben Wissenschaftler überraschende Erkenntnisse gewonnen.

Köln – Wenn meine Freunde sich ohne mich treffen, gibt es eine Regel: Danach wird nichts erzählt! Keine Details, keine Fotos, einfach nichts. Wir versuchen, uns selbst zu schützen, denn wir sind krank. Wir alle leiden unter Fomo – Fear of missing out. So nennt man heute die permanente Angst, etwas zu verpassen. Das klingt im ersten Moment vielleicht lustig, wenn ich das Akronym jetzt betrachte, finde ich das auch. Tatsächlich ist Fomo aber ein Problem, gerade für jüngere Menschen. Für Menschen wie mich, die zum Beispiel 27 Jahre alt sind.

Wir haben Fomo nicht erfunden, die Angst, etwas zu verpassen gab es schon immer, die haben auch unsere Eltern schon gefühlt, und deren Eltern wahrscheinlich auch. Wir sind soziale Wesen, wir sehnen uns nach Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Geborgenheit, Freundschaft. Leben heißt für uns erleben. Wir wollen dabei sein, wenn irgendwo etwas Tolles passiert. Also müssen wir raus, Leute treffen, etwas Spannendes tun, sehen, etwas Intensives fühlen, jetzt, und später Geschichten davon erzählen. Das Angebot ist groß wie nie in der Stadt. Ständig finden irgendwo Veranstaltungen statt, Konzerte oder Partys - die dann nur halb so viel Spaß machen, wie erhofft. Wir sagen zu allem ja und haben dabei verlernt, Nein zu sagen.

Fomo wird durch Instagram und Co verstärkt

Der entscheidende und fatale Unterschied zu früher, zu meinen Eltern, zu deren Eltern: Wir können unsere Geschichten immer sofort erzählen. Wir können die ganze Welt auf unseren sozialen Kanälen daran teilhaben lassen, wie cool wir feiern, wie toll wir sind, wie wahnsinnig aufregend unser Leben ist. Es gibt keine Distanz mehr, alles ist live. Klingt eigentlich gut. Es gibt aber eine B-Seite.

Die sozialen Medien sind nicht nur im Ich-Modus – ich poste, also bin ich. Sie zwingen mich in ihre Bilderwelt, ich muss dort unendlich viel anderes miterleben. Keine Chance wegzusehen: Wenn wir doch mal nein sagen müssen, bekommen wir die Geschichten der anderen in Echtzeit mit. Und genau damit werden Instagram und all die anderen zu Katalysatoren von Fomo. Und zu meinem ganz persönlichen, dauernörgelnden Begleiter des Alltags. Ich habe keine Geschwister, Fomo stelle ich mir immer wie einen kleinen Bruder vor, der permanent an meinem T-Shirt zupft und bespaßt werden will.

Juckreiz, Schlafstörungen und Schweißausbrüche

Doch was passiert, wenn ich das nicht kann? Was passiert, wenn es mir schlecht geht, ich mich zu Hause einniste, schlabbrige Klamotten anziehe, sinnlosen Unterhaltungen folge und fettiges Essen in mich reinstopfe? Dann schicke ich meinen kleinen Bruder einfach in sein Zimmer. Glaube ich zumindest, denn zeitgleich wische ich über mein Smartphone, um zu sehen, wo meine Freunde genau jetzt unterwegs sind und was ich gerade alles verpasse. Exakt in diesem Moment bin ich maximal gefomot. Es ist dieses unwohle Gefühl, es drückt aufs Gemüt, es sickert in mich ein, irgendwann stelle ich mir die Frage: „Wegen irgendwas bin ich gerade schlecht gelaunt. Was war nochmal der Grund?“

Fomo kann sich verschieden äußern. In erster Linie ist damit die Angst gemeint, etwas zu verpassen, was Freunde erleben. Fomo kann aber genauso gut im Beruf, bei der Reiseplanung oder der Wahl des Hobbys auftreten. Die Vielfalt des Angebots ist der fruchtbare Boden, auf dem die Fomo gedeiht. Wenn man sich ständig fragt, ob das Konzert nicht doch besser gewesen wäre als der Geburtstag einer Freundin, zahlt das massiv aufs Fomo-Konto ein – und es überfordert. Die „Techniker Krankenkasse“ bezeichnet Fomo als „erste Social-Media-Krankheit“, Symptome seien innere Unruhe bis hin zu Schlafstörungen. Eine amerikanische Journalistin der Huffington Post berichtet von Schweißausbrüchen und Juckreiz im Zuge ihrer Fomo-Selbstdiagnose. So schlimm ist es bei mir noch nicht, für schlechte Laune und den Zwang zum ständigen socializen reicht es aber allemal.

Wie die Industrie mit Fomo Geld verdient

Fomo macht uns zu ständigen Konsumenten. Oder macht uns das Angebot zu Fomoistas? Ich spüre so drängend den popkulturellen Zwang, die Macht der Musik, ganz neu, die ich noch hören muss, die Watchlist, die dringend von mir abgearbeitet werden will, die ganzen offenen Tabs, von heute, von gestern, hinter denen dutzende spannende Artikel warten – ich muss sie alle lesen. Ja, ich „muss“. Mir geht es erst besser, wenn ich das geschafft habe. Fomo lässt mich leisten, versäumen führt zu versagen. Jemand könnte mich darauf ansprechen, auf den Song, auf die Serie, auf die Seite – und dann hätte ich sowas von das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Fomo kostet Geld. Längst macht die Industrie sich Fomo zunutze. Da wäre zum Beispiel die künstliche Verknappung. Wenn Firmen Sneaker verkaufen und gezielt darauf hinweisen, dass es nur eine limitierte Auflage gibt – Fomo! Wenn die ganze Welt meint, an irgendeinem Freitag im November ohne Sinn und Verstand massenhaft Zeug einzukaufen zu müssen, weil sich ein Schlauer den „Black Friday“ ausgedacht hat und es angeblich nur genau an diesem Tag die günstigsten Produkte gibt – Fomo! Und selbst an der Börse ist Fomo ein gängiger Begriff. Gemeint ist die Angst der Börsianer, bei einem Hype nicht dabei zu sein, die falschen Anlagen zu halten und nicht flexibel reagieren zu können.

An den Universitäten Carleton und McGill haben Forscher Belege dafür zusammengetragen, dass Fomo nichts mit der Persönlichkeit zu tun hat. Demnach ist es ein Trugschluss, dass ichbezogene und extrovertierte Menschen besonders anfällig sind. Eine Risikogruppe gibt es aber: Menschen, die mit ihrer aktuellen Lebenssituation nicht zufrieden sind und ungestillte Bedürfnisse nach Liebe und Respekt haben, leiden häufiger unter Fomo. Zum Glück kann ich so etwas sehr gut verdrängen, vermutlich würde ich zu extrem unbefriedigenden Ergebnisse gelangen, wenn ich mich wirklich auf die Suche nach meinen persönlichen Gründen machte.

Zur Perversion getrieben wird Fomo bei Tinder

Aber klar sehe ich die Spitze des Fomo-Triggers auf der Datingplattform Tinder. Alle, Frauen wie Männer, die dort unterwegs sind, können es fühlen, ich habe es selbst erlebt. „Überangebot“ wäre ein viel zu kleines Wort. Hunderte, tausende oder noch mehr Frauen (und Männer), je nachdem wie groß der Suchradius eingestellt ist. Ein paar Wochen bin ich ziemlich degeneriert. Erst fühlte sich die Auswahl ermattend an, dann das Chatten und ganz am Ende sogar die Dates. Die Funktionsweise des Portals ist so perfide wie genial: Mit jedem Wisch eine neue Frau. Noch ein Wisch, Nächste! Das Schreiben langweilt mich? Nächste! Die Fotos sind doch nicht so toll? Nächste! Sind das Perlenohrringe? Nächste! Irgendwann sehen alle Frauen gleich aus. Es kommt mir vor, als stellte ich eine Radio-Frequenz ein: Sehr viel Grundrauschen, ab und an ein lautes Störgeräusch, dann ein guter Song – und schnell der nächste Sender, wenn die Musikauswahl schlechter wird. Und genau das kennzeichnet Fomo, Fomo kennt keine Geduld und keine Gnade, Fomo ist ungesund. Wer unter Fomo leidet, wird nichts Wahrhaftiges erleben.

Ich will das nicht mehr. Ich will es ändern und probiere es. Meistens scheitere ich – und manchmal ist auch das wichtig. Denn aus der Komfortzone zu kommen kann auch beflügeln. Für mein letztes Silvester hatte ich für einen Fomoisten einen verwegenen Plan: Zu Hause einnisten, schlabbrige Klamotten anziehen, sinnlosen Unterhaltungen folgen und fettiges Essen in mich reinstopfen. Eine Woche vorher rief mich Volker an. Volker ist einer jener Freunde, die anrufen und keine Fragen stellen. „Ich komme an Silvester vorbei und habe zwei Tickets für eine Party besorgt. Du kommst mit, yallah. Bis dann!“ Ich war genervt. Wieder hatte ich das Nein nicht geschafft. In diesem Fall hätte mir aber auch nichts Besseres passieren können, denn mit Volker hatte ich den besten Silvesterabend meines Lebens. Das lässt mich wieder zweifeln. Ohne Fomo wäre ich niemals mitgegangen…

Jomo heißt die Gegenbewegung

Es ist an der Zeit, das Akronym Fomo neu zu definieren. Mein Vorschlag: Fort mit (der) Omnipräsenz. Zugegeben, es klingt etwas sperrig. Aber die Message passt: Wir können nicht zu jeder Zeit dort sein, wo etwas passiert, und letztlich scheint das auch nicht erstrebenswert. Oder wir schließen uns der bereits rollenden Gegenbewegung an. Sie heißt Jomo („Joy of missing out“) und meint die Freude daran, nicht dem Glauben anzuhängen, man könne alles im Leben mitnehmen.

Fomo führt mich zu eigentlich basalen Erkenntnissen. Unsere körperliche und seelische Konstitution ist der beste Kompass. Wenn wir etwas machen wollen, gehen wir raus und machen das. Wenn wir gerade keine Lust haben, und wieder und wieder keine Lust, ist es schön, wenn jemand uns von Zeit zu Zeit mal ermutigt, aktiv zu werden. Manchmal gehen wir darauf ein, manchmal aber auch nicht. Nein ist ein schönes Wort. Oder: „Ich habe keine Lust und mache heute das, was ich möchte.“ Sagen Sie den Satz mal laut, das ist die schönste Negation der Welt! Fomo ist schrecklich, Fomo macht stumpf, wer Fomo begreift, muss zur bitteren wie absurden Erkenntnis kommen: Nicht mal das Zweitbeste ist gut genug. Und was das Beste ist, werden wir nie erfahren, weil wir nicht gleichzeitig überall sein können. Der erste Schritt zur Fomo-Heilung besteht darin, den Unternehmungskompass wieder neu einzunorden.

Kuschelnde Bären als Medikament gegen Fomo

Fomo stielt mir meine Zeit. Dauernd muss ich mich optimieren, um noch mehr erleben zu können. „Zeitmanagement“ füllt Bücher, Podcasts und Fernsehsendungen. Zeit zu verschwenden gilt als furchtbar bis rückständig. Wie durch und durch falsch! Der zweite Schritt zur Fomo-Heilung ist die Übung, Zeit zu verschwenden. Was für ein wirklicher Luxus, sich langweilen zu können. Es ist sogar wissenschaftlich erwiesen: Langeweile ist nicht nur gesund, sondern der Schlüssel zu Kreativität. Hirnforscher haben herausgefunden, dass bei Langeweile sehr weit entfernte Gehirnareale miteinander zusammenarbeiten, die das sonst nur sehr selten tun.

Ich möchte mich langweilen, aber so einfach geht das nicht. Also fange ich langsam an, Schritt für Schritt, ich entoptimiere mich, nehme mir Zeit, löse das toxische Band zu meinem kleinen Bruder Fomo, Scheitern ist in der Heilung eingepreist und niemand spricht von sozialer Isolation. Ich mache Entdeckungen. Wie wohltuend kann es sein, sich einfach ins Bett zu legen, bei Youtube „Cuddling bears“ aufzurufen und sich dann von einem undurchsichtigen Algorithmus durch die digitalen Abgründe der Zeitverschwendung navigieren zu lassen. Versacken statt verpassen. Das klingt so gut. Morgen rufe ich Volker an.