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Psychiaterin„Nach mehr als zwei Jahren Pandemie haben viele die Regeln satt“

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2G, 3G, Maske, Abstand – viele Corona-Regeln fallen jetzt weg. 

  1. Die weitreichenden Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen leiten eine neue Phase der Pandemie ein.
  2. Von nun an ist die Eigenverantwortung der Einzelnen gefragt.
  3. Im Interview erklärt die Bonner Psychiaterin, warum das zwar auch belastend sein kann, uns insgesamt aber gut tut.

Frau Professorin Philipsen, wie reden wir hier in Ihrem Büro miteinander? Mit oder ohne Maske?Alexandra Philipsen: Ganz einfach: Wir halten uns an die Regeln hier in der Klinik. Und die sehen nach wie vor eine Maskenpflicht vor. Ich finde das – ehrlich gesagt – entlastend. Man wird ja inzwischen ganz wuschig vor lauter Vorschriften, die gelten, nicht mehr gelten oder wieder gelten.

Wirrwarr ist das eine. Aber das andere ist das Grundprinzip der Lockerungen: Mehr und mehr können alle machen, was sie wollen. Halten Sie das für richtig?

Der Appell richtet sich an die Selbstverantwortung, und ich denke, die meisten wissen auch um ihre Verantwortung und handeln danach. Dass für Menschen wie uns im Gesundheitswesen strengere Maßgaben gelten, geht in Ordnung. Und so schwer die Belastungen im Gesundheitssystem in der Vergangenheit waren – im Moment haben wir es eben dadurch etwas leichter als alle anderen, die sich dauernd fragen müssen, wie sie sich jetzt verhalten sollen.

Also ist klare Ansage von außen doch besser als das Hören auf die innere Stimme?

Na ja, es gibt ja auch diejenigen, die auf „klare Ansagen“ allergisch reagieren und rebellisch werden. Es ist außerdem nicht nur die Vorgabe von außen. Ich nehme nochmal mein Beispiel: Als Ärztin habe ich den Schutz meiner Patientinnen und Patienten vor Augen. Das ist von Vorteil für die Ausrichtung des inneren Kompasses: „Was ist das Beste für das Patientenwohl?“ Aus dieser Ausgangsfrage ergeben sich dann sehr leicht die konkreten Verhaltensweisen.

Zur Person

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Alexandra Philipsen

Foto: Universitätsklinikum Bonn

Alexandra Philipsen, geb. 1970, ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn und stellvertretende Ärztliche Direktorin der Uniklinik. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Behandlung von Erkrankungen wie Depression und stress-assoziierten Erkrankungen, Krisenintervention und störungsorientierte Psychotherapie. (jf)

Solange noch die Regeln 3G oder 2G+ galten, haben sich angesichts überwiegend milder Corona-Verläufe sich manche bei der Frage ertappt: Lasse ich’s drauf ankommen und ziehe ungetestet los, damit ich nicht im Fall eines Positiv-Tests meine schönen Pläne ändern muss.

Ich kann das sogar nachvollziehen. Mit den empirischen Evidenzen hinken wir zwar immer eine Zeit hinterher. Aber ich glaube schon, dass es für viele desillusionierund und ernüchternd war, als sie feststellen mussten: doppelt geimpft, geboostert, gut geschützt – und trotzdem infiziert. Mit dieser Frustration umzugehen, war und ist nicht einfach. Zumal über Monate hinweg so hohe Erwartungen mit der Impfung verbunden waren.

Und bevor die Regeln dann vor lauter Frust auf breiter Front unterlaufen werden, ist es besser, sie gleich abzuschaffen?

Richtig und falsch – das gibt es in der Mathematik. Für den Umgang mit Corona lege ich noch eine Beobachtung dazu: Nach mehr als zwei Jahren Pandemie haben viele es satt. Isolation und Einsamkeit haben zugenommen. Die Alten haben gelitten, die Jungen haben auf ihre Weise auch gelitten. Als neue Bedrohung kommt jetzt auch noch der Krieg dazu.

Demgegenüber wissen wir inzwischen: Eine Covid-Erkrankung verläuft in der Regel mild, besonders wenn Sie geimpft sind. Und mit mild ist alles gemeint, was nicht zu einem Krankenhausaufenthalt führt. Dass die Politik sich dann für Lockerungen entscheidet, ist nachvollziehbar und sicher auch für viele Menschen stimmig.

Aber für die Risiko-Gruppen…

… ist es gefährlich – und für einige wenige katastrophal.

Also, wonach sollen wir dann den Kompass ausrichten?

Am Faktor „Schutz“. Wer etwa bei sich Symptome feststellt, die auf eine Corona-Infektion hindeuten, der greift dann eben zur Maske, wenn er sich im öffentlichen Raum bewegt, und lässt sich testen. „Ich möchte niemanden anstecken“ oder „Wir geben aufeinander acht“ - damit ist der innere Kompass für die Einzelnen und für die Gesellschaft schon mal gut eingestellt.

Und die symptomfrei Infizierten?

Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, das ist klar. Deswegen kommt zum Faktor „Fremdschutz“ der Eigenschutz bei denen dazu, die besonders gefährdet sind oder ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis haben. Die Menschen sind da ja auch unterschiedlich. Mir zum Beispiel ist oft die OP-Maske, mit der ich nur die anderen schütze, lieber als die FFP2-Maske, die auch mir selbst Schutz bietet, mich aber beim Atmen etwas einschränkt.

Wer mit normalem Risiko nicht dauernd an die hoch Vulnerablen denkt, ist deshalb nicht verantwortungslos?

Dauernd an Risikopatienten zu denken, hilft den Betroffenen erst einmal gar nichts. Wir müssen auf die Verhaltensebene gehen. Stellen Sie sich vor, Sie treffen auf engem, geschlossenem Raum mit anderen zusammen. Was hindert Sie daran, künftig zu fragen, ob es den Anwesenden eine Beruhigung wäre, Maske zu tragen? Das Störungsgefühl, das man vielleicht noch vor ein paar Jahren hatte, wenn Touristen aus Asien mit Maske durch die Stadt liefen – das haben wir doch wohl alle hinter uns.

Sie meinen, der Corona-Schutz wird Teil der Höflichkeitsregeln oder Verhandlungssache im zivilisierten Miteinander?

Je mehr wir auf die Freiwilligkeit setzen, umso mehr kann es doch nur so gehen. Wobei man nicht verkennen darf, dass die Hochrisikogruppen immer die schwerere Last haben: die Belastung durch das Ansteckungsrisiko und die Belastung, sich deshalb in ihrem Leben viel mehr einschränken zu müssen als alle anderen.

Zu Beginn der Pandemie war es eine Art Horrorvision, dass täglich 100 oder 200 Menschen an und mit Corona sterben könnten. Dann hatten wir zeitweilig 1000 Tote täglich. Derzeit sind es 300. Und niemanden kümmert’s.

Sie spitzen zu! Ich fürchte aber, es ist etwas dran an dem, was Sie sagen. Der Mensch hat es gelernt, sich selbst an die schlimmsten Zustände zu gewöhnen. So grausam und bitter das klingt, so sehr ist diese Adaptation Teil einer Überlebensstrategie. Niemand würde sonst – um ein anderes, mindestens so schreckliches Beispiel zu nennen – das Ausharren im Kriegsgebiet überstehen.

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Bei den aktuellen Corona-Sterbezahlen muss man auch berücksichtigen, dass die Inzidenz um ein Vielfaches höher ist als während der ersten Corona-Wellen. Andersherum gesagt: Das individuelle Sterberisiko ist heute entsprechend geringer. Das hilft uns, der eigenen Angststeuerung eine Vernunftsteuerung entgegenzusetzen und das persönliche Risiko abzuwägen. Und das wiederum macht eigentlich unsere Freiheit als Menschen aus.

Ängste sind Ihr ureigenes Thema als Psychiaterin. Ist unsere Gesellschaft krankhaft angstgesteuert?

Ich komme jetzt nicht mit dem Ladenhüter von der „German Angst“. Im internationalen Vergleich sind pathologische Angststörungen in Deutschland nicht häufiger als anderswo. Die Zahl der psychischen Erkrankungen aber hat in der Pandemie zugenommen, ganz klar. Besonders auffallend ist dabei der hohe Anteil von Menschen, die in ihrem Leben noch nie psychiatrisch auffällig waren. Insbesondere gilt das für junge Menschen, bei denen speziell die Essstörungen massiv zugenommen haben. Zudem zeigen die Studien ein erheblich höheres Rückfallrisiko.

Auch da stellt sich die Frage, ob das in dem Maße, in dem der Corona-Schutz den Einzelnen überlassen bleibt und ein staatliches Regelwerk als Gerüst wegfällt, besser oder schlechter wird.

Ich rechne eher mit einer Verbesserung auch für psychisch Kranke. Zumal die ständig wechselnden und von Bundesland zu Bundesland abweichenden Regeln ihrerseits eine Beschwernis waren.

Mehr Normalität tut uns gut?

Das ist meine Mutmaßung. Wenn wir von Normalität reden, dann reden wir von Freiheit. Als Einzelne und als Gesellschaft kehren wir dahin zurück, wo wir vor der Pandemie waren.