- Cover-Girl mit 85, Nobelpreisträger mit 97, Präsidentschaftskandidat mit 77 – noch nie war die Generation der Älteren so fit und ambitioniert wie heute.
- Wann ist man eigentlich alt? Und was sagt das Alter, also die Anzahl an Jahren, überhaupt über einen Menschen aus?
- Unsere Autorin hat mit Altersforschern und Biologen gesprochen und schnell festgestellt: Die Generation Rente ist selbstbewusster denn je.
Köln – Retirement – dieses Wort mag Judi Dench überhaupt nicht. Ruhestand. „Nicht in diesem Haus, nicht hier“, raunzt sie Giles Hattersley von der britischen „Vogue“ an, als der sie nach ihrer Einstellung zum Älterwerden befragt. Und empfiehlt dem 45 Jahre jüngeren Journalisten: „Wash your mouth out – wasch dir mal den Mund aus.“
Ruhestand? Auf keinen Fall!
85 Jahre ist die vielfach gefeierte britische Schauspielerin im vergangenen Dezember geworden: eine alte Dame mit weißem Haar und feinen Fältchen in den Augenwinkeln. Im Juni wird sie als ältestes Covergirl in der Geschichte der „Vogue“ die Titelseite der Modezeitschrift zieren: Was im Grunde nicht überrascht bei einer, die sich zum 81. Geburtstag ihr erstes Tattoo gönnte. „Carpe diem“ – nutze den Tag, steht auf Judi Denchs rechtem Handgelenk.
Aufhören, ausruhen, die Hände in den Schoß legen – pah, darüber wolle sie nicht einmal nachdenken, geschweige denn darüber reden. Womit sich die Oscar-Preisträgerin und „Dame Commander“ des „Order of the British Empire“ in guter Gesellschaft befindet. Nie waren Menschen jenseits der 65 so aktiv und gesund wie heute – mopsfidele, reiselustige Best oder Silver Ager, die das Wort „alt“ in die Mottenkiste ihrer Großeltern verbannt haben und sich in der Mehrzahl zehn, 15 Jahre jünger fühlen, als sie an Lebensjahren sind. Greise? Greisinnen? Kennen wir nicht. Ruhestand? Wasch dir den Mund aus!
Politik, Gesellschaft, Musik – Alter ist kein Abdankungsgrund
So ringen demnächst in den USA mit Donald Trump und Joe Biden zwei Männer in ihrem achten Lebensjahrzehnt um das Amt des US-Präsidenten. 73 Jahre ist der eine, vier Jahre älter der andere. Ihr Ex-Konkurrent Bernie Sander, gehypt vor allem von einer jungen Anhängerschaft, feiert im nächsten Jahr seinen 80. Geburtstag. Im April 2020 trat er nach einem verpatzten Super Tuesday den Rückzug an. Zugetraut hätte sich der betagte Demokrat den Job als erster Mann im Staat allemal. Noch mitten im Politbetrieb steht seine Parteigenossin Nancy Pelosi. Die heute 80-Jährige war 2007 die erste Frau in den USA, die zur Sprecherin des Repräsentantenhauses gewählt wurde. Nach ihrer Wiederwahl im Januar 2019 denkt sie gar nicht daran, ihren Job in absehbarer Zeit an den Nagel zu hängen.
Für Schlagzeilen sorgte kürzlich auch der britische Weltkriegsveteran Tom Moore aus Marstone Moretaine. Mit dem Mutmach-Song „You’ll Never Walk Alone“ – „Du wirst niemals allein sein“ stürmte der 99-Jährige in Zeiten der Corona-Krise die Hitparaden seines Landes. Zuvor hatte der weißhaarige Captain rund 33 Millionen englische Pfund (etwa 37 Millionen Euro) an Spendengeldern für den „National Health Service“ gesammelt, indem er mit dem Rollator hunderte Male seinen Garten umrundete. Als Moore Ende April 100 Jahre alt wurde, ehrte ihn die Royal Mail mit einem Sonderstempel, zwei Jagdflugzeuge der Royal Air Force donnerten als Geburtstagsgruß über sein Haus hinweg. Sogar die Queen, der noch sechs Jahre bis zum runden Geburtstag fehlen, schickte Glückwünsche. Demnächst wird sie ihn zum Ritter schlagen.
Zum „Club“ gehört auch John Goodenough. Er kam drei Jahre vor seinem Hundertsten überraschend zu großen Ehren. 2019 wurde der amerikanische Wissenschaftler mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Da war er 97 Jahre alt und damit der älteste Nobelpreisträger aller Zeiten. „Du weißt nie, was passiert, wenn du so lange lebst“, sagte er nach der Bekanntgabe der Preisträger in einem Interview. Goodenoughs Rat an alle, die jünger sind als er: „Setzt euch nicht zu früh zur Ruhe.“
Ältere Menschen sind keine homogene Gruppe
„Die Kohorte der Älteren“ werde immer größer, dementsprechend wachse das Selbstbewusstsein der alten Menschen, erklärt SPD-Urgestein Franz Müntefering im Gespräch mit unser Zeitung die Mutation vom Greis zum selbstbewussten Best Ager. Und warnt eindringlich davor, alle jenseits des Rentenalters nach alter Sitte über einen Kamm zu scheren. Bloß keine Pauschalisierungen. „Wir Älteren sind eine sehr bunte Truppe mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten und sehr unterschiedlicher Konstitution.“ Man dürfe die Menschen daher nicht „horizontal“ nach Alterskohorten unterscheiden, sagt Müntefering. „Jeder von uns ist ein Unikat, und Alter ist keine Kategorie.“ Erst recht keine, die die pauschale Ausgrenzung Älterer aus der Gesellschaft rechtfertige. „Wir können und wir wollen mitreden.“
80 Jahre ist der ehemalige Bundesminister für Arbeit und Soziales im Januar dieses Jahres geworden, seit 2015 ist er Vorsitzender der „Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen“ – eine Ausnahmeerscheinung noch vor 100 Jahren, als in Deutschland die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer 56 Jahre betrug. „Heute sind in Deutschland fünf Millionen Menschen so alt wie ich und haben ähnliche Erfahrungen gemacht“, sagt Müntefering. Eine Kindheit im Krieg, die Entbehrungen der Nachkriegszeit. Was dem Ex-Politiker Trost und Bestätigung zugleich ist. „Man ist nichts Besonderes mehr und sieht, dass man im Alter gut, autark und menschenwürdig leben kann.“ Wie alt jemand sei, sage nichts über seine Lebensqualität aus.
„Ältere Menschen sind engagierter"
Altwerden als Chance und als Gemeinschaftserlebnis. Bereits heute wird die Mehrzahl der Menschen weltweit 60 Jahre oder älter. Und: Es geht ihnen oft bis ins hohe Alter gesundheitlich relativ gut, auch das eine Premiere in der Geschichte der Menschheit, in der von Anbeginn an schon früh gekränkelt und gestorben wurde. Kriege, Kämpfe, Kindbettfieber – die Möglichkeiten, seinen 30. Geburtstag nicht zu erleben, waren jahrtausendelang vielfältig. „Das Altern der Bevölkerung ist einer der bedeutendsten Trends des 21. Jahrhunderts, die wachsende Langlebigkeit einer der größten Erfolge der Menschen“, heißt es dazu in einem Papier des „Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen“. Im Jahr 2050, so die Prognose der Demografen, werden voraussichtlich rund zwei Milliarden Menschen über 60 sein – eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und medizinische Herausforderung für alle Länder dieser Welt.
Die meisten der Älteren sind zufrieden mit einem Lebensabschnitt, der ihnen viele persönliche Freiheiten gewährt. „Die Zeitreichen“ nennt Müntefering all jene, die aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind. Menschen mit einem „Schatz an Zeit“, die sie für sich selbst, aber auch für andere nutzen können. Die Hälfte der Menschen ab 65 Jahren nutzt nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden das Internet, zwei Drittel davon surften sogar täglich im Netz. Und: „Ältere Menschen sind heute deutlich häufiger freiwillig engagiert als noch vor 15 Jahren. Sie investieren mehr Zeit in ihr freiwilliges Engagement als Jüngere und sind besonders häufig im sozialen Bereich tätig.“
Längst macht sich die Werbebranche, sonst eher jugendorientiert, das neue Bild von den agilen Alten zunutze. Noch vor 15 Jahren habe es in ganz Deutschland außer der seinen nur noch eine weitere Werbeagentur gegeben, die Models ab 60 vermittelt habe, sagt der Mülheimer Künstleragent Jochen Florstedt. „Heute bietet so ziemlich jeder in meiner Branche ältere Models an. Es ist die reinste Inflation.“ Selbst Hollywood setzt, wenn auch bis dato selten, mit Filmen wie „Unsere Seelen bei Nacht“ auf Alter und Erfahrung: Ein betagtes Paar, gespielt von Jane Fonda, 82, und Robert Redford, 83, findet zueinander – und schert sich keinen Pfifferling um das Geschwätz der kleinkarierten Nachbarn. Hollywood-Legende Kirk Douglas drehte 2008 mit 92 Jahren seinen letzten Film. Meryl Streep, Jahrgang 1949, stand 2019 gleich zweimal vor der Kamera.
„Wir haben eine höhere Lebenserwartung als je zuvor.“
Meister im Altwerden sind seit Jahrzehnten die Japaner: Das Durchschnittsalter im „Land der aufgehenden Sonne“ beträgt inzwischen 48,4 Jahre, 28 Prozent der Bevölkerung sind älter als 64. Deutschland belegt – hinter Japan, Italien, Martinique und Portugal – Platz fünf der demografischen Rankingliste. Das Durchschnittsalter aller Deutschen beträgt im Jahr 2020 exakt 45,7 Jahre, und seinen 64. Geburtstag hat hierzulande jeder Fünfte hinter sich. Vor allem der Kreis der Hochbetagten, der Über-85-Jährigen also, wächst. 2,3 Millionen Männer und Frauen hatten 2018 die magische Grenze zum Greisenalter überschritten. 1991 waren es gerade mal 1,2 Millionen.
Für Martin Denzel vom Kölner „Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns“ ist das keine große Überraschung. Seit der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts wachse die Lebenserwartung der Menschen rund um den Globus pro Jahr um drei Monate. In Deutschland beträgt sie für Männer 79,1, für Frauen 84,1 Jahre. Zwar sei die genetische Grundausstattung des Homo sapiens gleichgeblieben, doch profitiere der Mensch von den veränderten historischen, gesellschaftlichen und medizinischen Rahmenbedingungen, so Denzel. Die Folge: „Wir haben eine höhere Lebenserwartung als je zuvor.“ Wenn wir denn pfleglich mit uns selber umgehen.
Jung bleiben durch Sport und Ernährung
Wie weit sich die Grenze bis zum Tod hinausschieben lässt, vermag man allerdings auch am Max-Planck-Institut nicht zu sagen. „Mit dem Alter lässt die Fähigkeit nach, mit biologischem Stress umzugehen. Außerdem wächst die Wahrscheinlichkeit, an altersbedingten Krankheiten wie Herzkreislauf-Erkrankungen oder einem Tumor zu sterben“, erklärt Denzel den hochkomplexen Alterungsprozess, den zu entschlüsseln zu seinem Job gehört. Immerhin: Drei Viertel der Deutschen ab 65 Jahren fühlten sich gesundheitlich fit, so das Ergebnis einer Umfrage des Statischen Bundesamt. EU-weit fühle sich sogar die Hälfte der 65- bis 74-jährigen gut beziehungsweise sehr gut.
Inzwischen wisse man zwar, dass sich der Alterungsprozess durch einzelne Genveränderungen verlangsamen ließe, so Denzel. Eine Pille gegen das Altern allerdings sei nicht in Sicht. „Es ist kompliziert.“ Denzels Rat, um möglichst lange möglichst gut zu leben: „Sport treiben, nicht rauchen, sich gesund ernähren, Kalorienreduktion, um dem Körper eine milde Unterversorgung zu signalisieren.“
Die Schar der aktiven Älteren wächst, das Image von den „schwachen, hilfsbedürftigen Alten“ indes hält sich hartnäckig. Wassich erst jüngst in der Diskussion um eine mögliche „Corona-Quarantäne für Senioren“ gezeigt hat: null Differenzierung, Altsein gleich krank. Eine Sichtweise, gegen die sich gerade zahlreiche Prominente aus Politik und Gesellschaft, darunter der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas und die ehemalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan, ausgesprochen haben. Sie schalteten in der FAZ eine Anzeige, in der sie davor warnen, „das Leben alter Menschen als zweitrangig“ zu betrachten.
Leistung zeigen – auch im Alter
„Die Altersbilder unserer Gesellschaft sind defizitär orientiert“, konstatiert auch der Gerontologe Georg Rudinger, 78 Jahre und Gründer des „Zentrums für Alterskulturen“ an der Bonner Universität. Die Themen der seit 2002 bestehenden interdisziplinären Forschungseinrichtung: „Mobilität im Alter“, „Demografischer Wandel und seine Implikationen“, die „historisch-kulturellen Rahmenbedingungen des Alterns“.
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„Man hat nur vor Augen, dass bei Älteren alle Fähigkeiten immer mehr abnehmen und die Kurve steil nach unten geht“, sagt Rudinger, den solche Altersbilder extrem ärgern, im Gespräch mit dieser Zeitung. Einer seiner Lieblingsfeinde: der „Altersanzug“, eine Art Overall, der die Bewegungsfreiheit seines Trägers erheblich behindert und simulieren soll, mit welchen körperlichen Einschränkungen der Mensch im Alter zu rechnen hat. Was man dabei völlig vernachlässige, seien die „adaptiven Prozesse“, die mit den altersbedingten Veränderungen einhergingen, grantelt Rudinger. „Es gibt zahlreiche Kompensationsmechanismen, mit denen Ältere ihre Schwächen ausgleichen und ihre Ziele dennoch erreichen können.“ Rudingers Fazit: „Wir können nach wie vor Leistung zeigen.“
Sicherheit, Entschlossenheit und Furchtlosigkeit
Ein weiteres Plus der Älteren: Expertenwissen, ausgefeilte Denkstrategien und Erfahrung, Erfahrung, Erfahrung. „Mit dem Alter wächst die Fähigkeit der Zusammenschau“, weiß Rudinger aus eigenem Erleben. Man durchschaue komplexe Zusammenhänge besser als weniger erfahrene Menschen und habe zudem die nötige Resilienz, die psychische Widerstandskraft also, Dinge, die nicht ganz so glatt laufen, zu ertragen. Heute, mit 80 Jahren, wisse sie genau, wovon sie rede, bestätigt US-Politikerin Nancy Pelosi die These des Bonner Wissenschaftlers. „Jetzt habe ich die nötige Sicherheit, Entschlossenheit und Furchtlosigkeit“, sagte sie kürzlich in einem Interview mit dem US-Sender NBC. Was die Demokratin Anfang des Jahres eindrucksvoll bewies, als sie im Kongress vor aller Augen ein Redemanuskript von Donald Trump zur Lage der Nation zerriss.
Leider, so Rudinger, hätten all diese Erkenntnisse „die gesamtgesellschaftliche Sichtweise“ noch nicht durchdrungen. „Wir sind weit davon entfernt, dass die Gesellschaft begreift und berücksichtigt, wie wir Älteren ticken.“ Zu einem sinnstiftenden und sinnerfüllenden Leben im Alter gehöre auch die Möglichkeit, sich und sein Wissen einzubringen für das Gemeinwohl. „Aber dafür braucht man eine Plattform, und man muss erwünscht sein.“
Dass es daran häufig noch hapert, weiß auch Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Zwar ändere sich das gesellschaftliche Bild vom Alter allmählich – „wir können heute anders über alte Menschen reden als früher und sehen, dass sie Spannkraft im Denken haben“. Dennoch würden die „Humanressourcen“ vor allem der über 75-Jährigen noch zu wenig genutzt. Eine vertane Chance, denn Ältere, „egal, wie körperlich verletzlich sie vielleicht sind“, könnten ein Vorbild für die Jüngeren sein und den nachfolgenden Generationen etwas von ihrem Wissen weitergeben.Zudem sei es wichtig für das Selbstbild alter Menschen, wie Politik, Kultur und Gesellschaft auf sie schaue und ihre Erfahrungen nutze, so Kruse. „Sie brauchen das Gefühl, dazuzugehören.“ Die Frage sei also, „wie man ihnen vermittelt, dass man sie ernst nimmt und an einem Austausch mit ihnen interessiert ist“.
Inzwischen, so scheint es, nehmen die Alten die Sache mehr und mehr selber in die Hand. Ruhestand? Da möchte man mit Judi Dench sagen: „Wasch dir den Mund aus!“