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Skateboard-Pionier Titus„Lasst eure Kinder mal in Ruhe, dann lernen sie fürs Leben“

Lesezeit 8 Minuten
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Skateboard-Pionier und Pädagoge Titus Dittmann schreibt in seinem Buch „Lernen muss nicht Scheiße sein“, warum mehr Freiraum Kinder stark macht. 

  1. Schule, Nachhilfe, Sport – die Zeit, in denen Kinder fremdbestimmt sind, hat stark zugenommen.
  2. Dabei erfahren Kinder die wichtigsten Dinge fürs Leben gerade dann, wenn sie Raum und Zeit für sich bekommen, sagt Titus Dittmann.
  3. Der Skateboard-Pionier erzählt, warum Eltern Kinder öfter in Ruhe lassen sollten – nicht nur beim Skaten.

Köln – Aufs Skateboard steigen, einfach alleine loslegen und üben, bis die Knie bluten und man stolz einen neuen Trick kann – dass Kinder Zeit und Raum kriegen, Dinge selbständig ausprobieren, ohne dass ihnen eine Eingreiftruppe aus Eltern und Pädagogen im Nacken sitzt, das sei heute viel zu selten geworden, sagt Titus Dittmann. Der Skateboard-Pionier und Pädagoge, der seit Jahrzehnten immer wieder aufs Neue junge Menschen fürs Skateboardfahren begeistert, weiß, wie viel sie fürs Leben lernen können, wenn sie nur genug Freiraum bekommen.

Titus weiß, warum Freiraum für Kinder so wichtig ist

In seinem neuen Buch „Lernen muss nicht Scheiße sein“ erzählt Dittmann, der mit „Titus“ europaweit ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut hat, wie das Skateboardfahren sein eigenes Leben geprägt hat, wie es Kinder in aller Welt stark macht und warum Eltern sich nicht nur beim Skaten einfach mal raushalten sollten. Ein Gespräch.

Sie sagen, Kinder werden heute zu viel fremdbestimmt – mit katastrophalen Folgen. Was macht es mit ihnen, wenn sie rundum betreut und überwacht werden?

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Titus Dittmann (geb 1948) arbeitete zunächst als Lehrer. bevor er sein Unternehmen „Titus“ aufbaute, das er noch heute leitet. Er lehrt zudem an der Universität Münster.  

Titus Dittmann: In den letzten 70 Jahren hat sich die tägliche Zeit in der Schule für Kinder fast verdoppelt. Danach steht Förderung an: Nachhilfe, Sportverein usw. Die wenige verbleibende Freizeit wird durch übertriebene Fürsorge und Angst seitens der Eltern mehr und mehr zur dauerbehüteten Kontrollzeit. Erwachsenenfreie Zeiten drohen auszusterben. Dadurch kommt das Nebenher-Lernen, das mit Menschsein, Werten und Persönlichkeit zu tun hat, viel zu kurz.

Kinder lernen heute kaum mehr, eigenständig zu denken, abzuwägen, für sich selbst verantwortlich zu sein und sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie lernen auch nicht mehr, Entscheidungen zu treffen, weil die meist für sie getroffen werden.

Außerdem erleben sie nicht mehr, was es heißt, Langeweile zu haben. Doch erst wenn einem langweilig ist, entsteht Kreativität. Das Kind sucht sich ein Spiel, entwickelt etwas und beginnt, über sich und die Welt nachzudenken. Das passiert nicht, wenn es immer nur von den Erwachsenen unterhalten und belehrt wird.

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Titus Dittmann begeistert überall auf der Welt Kinder für das Skateboardfahren.

In Ihrer Kindheit war das anders?

Dittmann: Ja. Ich wurde Ende der 50er Jahre nach der Schule in den Wald geschickt und es hieß „komm wieder, wenn es dunkel ist“. Da mussten sich Kinder zwangsläufig viel mehr selbst ausdenken und natürlich Eigenverantwortung übernehmen. Ältere passten auf die Jüngeren auf, ohne dass das überwacht wurde. Genau dieses Verantwortung-übergeben formt aber Menschen, die in der Lage sind, von sich aus etwas zu bewegen. So habe ich damals im Grunde schon gelernt, was es heißt, ein Unternehmer zu sein. Ich war verantwortlich für mich selber und mein Tun und musste auch die Konsequenzen dafür tragen.

Viele Kinder heute, die zu wenig Freiraum haben, lernen genau das nicht: Für etwas einzustehen oder für sich selbst verantwortlich zu sein. Weil immer entweder die Eltern, die Lehrer oder die Gesellschaft für alles die Verantwortung übernehmen.

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Was heißt das für die Eltern – was sollten sie tun?

Dittmann: Sie sollten locker sein und ihre Kinder auch einfach mal in Ruhe lassen. Das hat mit Vertrauen zu tun. Weil wir unseren Kindern heute nichts mehr zutrauen, sagen wir ihnen von morgens bis abends, was sie machen sollen. Aber durch dauerndes Belehren lernen Kinder gar nicht gut. Das sagte schon der alte chinesische Gelehrte Konfuzius: „Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.“

Tun, Erlebnis und Emotion helfen beim Lernen. Das fängt schon beim Kleinkind an, das versucht, Klötzchen aufeinander zu stapeln: Der Frust, der entsteht, weil es nicht von Anfang an klappt, sorgt dafür, dass am Ende hängen bleibt, wie es funktioniert. Wenn die Eltern eingreifen, bevor das Kind selbst eine Lösung gefunden hat, dann vergisst es das schnell wieder. Es kann nur Leistungsbereitschaft, Leidensfähigkeit und Fokussierung lernen, wenn es dafür den Raum bekommt und sich nicht dauernd Erwachsene einmischen.

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Titus Dittmann organisiert zusammen mit seiner Organisation „Skate-Aid“ Skateboard-Projekte in Krisen- und Kriegsgebieten - hier in Bethlehem.

Halten Kindern auch länger durch, wenn man sie einfach machen lässt?

Dittmann: Vor allem, wenn sie sich selbst etwas vornehmen. Denn was der Mensch sich selbst als Ziel setzt, verfolgt er viel intensiver. Wenn Kinder etwas wollen, es selbst versuchen, hart daran arbeiten, Fehlschläge wegstecken und dann irgendwann, trotz aller Widerstände, das Ziel erreichen, entsteht eine wahnsinnige Euphorie. Bei fremdgestellten Aufgaben erlebt man so etwas nicht, da kriegt man höchstens mal ein Fleiß-Kärtchen. Alle Eltern und Pädagogen möchten immer, dass die Kinder eine solche intrinsische Motivation entwickeln. Das kann man ihnen aber nicht beibringen, das müssen sie erleben.

Also weniger Schule, mehr Lernen im „echten Leben“?

Dittmann: Ich sage jetzt nicht: Wir müssen die Schule zumachen und alle in den Wald schicken. Ich kämpfe aber für eine Balance. Es fehlen die Erwachsenen-freien, selbstbestimmten Zeiten für Kinder, in denen sie mit Spaß ganz nebenher lernen und gar nicht merken, was sie alles genau dann lernen. Lernen muss nicht Scheiße sein!

An so etwas wird aber gar nicht mehr gedacht, weil alle nur noch darauf fokussiert sind, eine 1+ im Abi zu schreiben. Ob ein Kind erfolgreich ist, wird nur noch an guten Noten gemessen. Dabei kann man auch anders Erfolg haben.

Viele beklagen, dass Schüler nach dem Abi in ein Loch fallen und ein Jahr abhängen, weil sie nicht wissen, was sie machen sollen. Aber das ist doch auch vollkommen klar, wenn man nie Zeit hatte, darüber nachzudenken, was man im Leben überhaupt will. Aber Sozialkompetenz, Empathie und alles, was mit Gefühlen zu tun hat lernt man am besten im selbstbestimmten Raum. Schule macht zivilisationsfähig – aber die Erwachsenen-freien Zeiten machen lebensfähig.

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Dittmann hilft einem Mädchen in Syrien bei den ersten Rollversuchen auf dem Board.

In Ihrem Buch schreiben Sie: „Wenn einen die Mutter im Auto bis vors Schultor fährt, kann man als Kind auf dem Schulweg keinen Schokoriegel am Kiosk klauen.“ Sollten Kids einfach wieder mehr anstellen und Grenzen übertreten?

Dittmann: Ich bin weit davon weg, zu sagen, dass Kinder klauen sollten – im Gegenteil. Der Schokoriegel ist nur ein Beispiel dafür, dass gelebtes Lernen ganz anders hängen bleibt, als wenn die Eltern sagen, man darf nicht klauen.

Ich habe in den 50er Jahren mit sechs in einem kleinen Lebensmittel-Laden, in dem ich etwas für meine Eltern besorgen sollte, einen Lutscher geklaut. Ich bin vielleicht 20 Meter weit gegangen, da hatte ich solche Gewissensbisse, dass ich den Lutscher weggeworfen habe, ich wollte ihn einfach nicht mehr lutschen. Diese Erkenntnis von innen heraus, dass man etwas Falsches gemacht hat und sich dann anschließend damit beschäftigen muss, mit sich selbst ins Reine kommen muss, das ist doch ein ganz anderer Lernprozess, als wenn man nur theoretisch von außen den Druck kriegt.

Sind Kinder und Jugendliche, die solche Erfahrungen nicht machen, heute brave, angepasste Angsthasen?

Dittmann: Das ist natürlich etwas schwarz-weiß gemalt, aber im Extremfall ja. Angst spielt natürlich eine große Rolle. Heute haben vor allem Eltern unbegründet und übertrieben viel Angst um ihre Kinder, was sich auch auf den Nachwuchs überträgt.

Wenn ich in Afghanistan oder Syrien bin, sehe ich den Unterschied. Die Kinder dort sind so wie die Kinder hier bei uns in den 50er Jahren waren. Wenn wir in Krisen- und Kriegsgebieten einen Skatepark bauen, dann habe ich dort eine Horde begeisterter Kinder – aber keinen Elternteil weit und breit. Bei uns haben wir oft Probleme, die Eltern draußen zu halten, damit sich die Kinder selbst ins Skateboard-Fahren vertiefen können. Viele Eltern wollen kontrollieren, ob das Kind auch oft genug das geliehene Skateboard abkriegt und ihm keiner was wegnimmt.

Welche Erfahrungen haben Sie mit den Kindern im Ausland noch gemacht?

Dittmann: Die Kinder in den anderen Kulturen sind extrem selbständig. Sie haben zwar harte Regeln in ihrem Alltag, aber wissen eben auch, woran sie sind. Bei uns verschwimmen die Regeln oft. Eltern verkünden Grenzen und sorgen dann doch nicht dafür, dass diese eingehalten werden. Stattdessen kreisen sie wie Helikopter um das Kind und passen auf, dass nichts passiert. Ich finde, Regeln müssen, besonders wenn es um Kinder geht, klar sein, damit sie wie Leitplanken funktionieren können. Wenn es klare Grenzen gibt, kann man auch leichter Freiräume lassen.

Warum können Kinder gerade beim Skateboarden so viel fürs Leben lernen?

Dittmann: Beim Skateboarden ist alles selbstbestimmt. Der Skateboarder setzt sich selbst das Ziel, welchen Trick er lernen will. Er überlegt alleine, wie er das lernen will und guckt sich das dann irgendwo ab oder holt sich Hilfe. Das Kind wird durch selbstbestimmtes Tun stark - das Skateboard-Fahren ist nur ein Mittel zum Zweck.

Speziell beim Skateboard-Fahren ist aber, dass es eine Kinder- und Jugendsache geblieben ist. Ein Kind kommt in der Regel besser mit einem Skateboard klar als jeder Erwachsene. Einfach auch, weil der Erwachsene, anders als das Kind, oft keinen Sinn darin sieht, tausend Mal auf die Schnauze zu fallen, um am Ende ein Treppengeländer herunterfahren zu können. Für Kinder ist das natürlich stark, wenn sie plötzlich etwas besser können als die Eltern.

Ein Kind lernt dadurch auch Leistungsbereitschaft kennen – und wie schön das ist, wenn man trotz aller Leiden und gegen alle Widerstände eben plötzlich einen Trick kann. Das gibt es im Sport tatsächlich selten, dass Kinder ohne erwachsene Begleitung irgendwo dauernd auf die Nase fallen, sich aufrappeln und einfach weitermachen. Weil sie sich eben selbst ein Ziel gesetzt haben und Entscheidungen treffen, können sie dann auch leichter die Zähne zusammen beißen und die Konsequenzen tragen. Sie lernen fürs Leben, dass nach dem Hinfallen immer wieder das Aufstehen kommt.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Buchcover

Buchtipp:Titus Dittmann, Lernen muss nicht Scheiße sein, Benevento Verlag, 2019